Mädchen brauchen die gleichen Chancen im Leben wie Jungen. Unter anderem in der Berufswelt. Deswegen initiieren das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seit 2001 jedes Jahr gemeinsam den Girls’Day und Boys’Day – den Mädchen-Zukunftstag und den Jungen-Zukunftstag.
Am 25. April 2024 ist es wieder soweit. An diesem Tag schnuppern Mädchen in Berufe oder Studienfächer rein, in denen der Frauenanteil unter 40 Prozent liegt. Das sind zum Beispiel in der IT-Branche, im Handwerk, in Naturwissenschaften oder Technik. Und umgekehrt erhalten Jungen einen Einblick in „typische” Frauenberufe.
Aber bringt das wirklich was? Vor allem, wenn viele Mädchen zwar an sich selbst und ihre Fähigkeiten glauben, aber sonst niemand… Dafür gibt es sogar einen Begriff: Dream Gap.
„Lasst uns über den ‚Dream Gap‘ sprechen”, sagt ein kleines Mädchen im Scheinwerferlicht auf einer Bühne. „Was ist das?”, fragt ein anderes. Ein drittes Mädchen fängt an zu erklären. Die Traumlücke sei die Kluft, die zwischen Mädchen und ihrem vollen Potenzial steht – zwischen dem, was Mädchen glauben, erreichen zu können, und dem, was sie aufgrund gesellschaftlicher Barrieren tatsächlich erreichen.
So fängt ein Video an, das auf Social Media viral ging. Initiiert wurde das „The Dream Gap Project” von der Barbie-Firma Mattel. „Ab dem fünften Lebensjahr glauben Mädchen nicht mehr daran, dass sie Präsidentinnen, Wissenschaftlerinnen, Astronautinnen, Ingenieurinnen und Geschäftsführerinnen werden können”, fassen die Mädchen im Video das Problem zusammen.
Mädchen und Frauen haben in vielen Berufen immer noch das Nachsehen. Das liegt unter anderem an den Geschlechterstereotypen in unserer Gesellschaft. Männer werden Handwerker, Manager oder Arzt. Frauen werden Sekretärin, Lehrerin oder Pflegekraft. Auch Eltern sind nicht frei von diesen Vorstellungen, wenn es um die Berufswahl ihrer Kinder geht.
Das ergab die Elternbefragung zum Girls’Day 2022: „Selbst bei gleichen Schulleistungen können Eltern sich technische Berufe, IT und Informatik für ihre Töchter signifikant seltener vorstellen als für ihre Söhne”, heißt es dort. Und weiter: „Im Fach Kunst können sich Eltern andersherum ihre Söhne schlechter als ihre Töchter in künstlerischen Berufen vorstellen, selbst bei ähnlichen Leistungen in diesem Fach.” Hier setzen der Girls’Day und der Boys’Day an.
Behind the Statistik: Ist mehr genug?
Tatsächlich gewinnen MINT-Berufe oder Studienfächer, also Tätigkeiten in den Bereichen Mathematik, Informatik, Natur- /Ingenieurwissenschaft und Technik durch den Girls’Day bei Mädchen und jungen Frauen an Attraktivität. Nach dem Orientierungstag können sich mehr Teilnehmerinnen vorstellen, einen Beruf, eine Ausbildung oder ein Studium in diesen Bereichen zu ergreifen.
Sind 21 % der Girls’Day Teilnehmerinnen, die sich einen IT-Beruf vorstellen können, nicht immer noch zu wenig?
Oder die 17 % der Mädchen, die einem technischen Beruf nicht ganz abgeneigt sind?
Sind 21 % der Girls’Day Teilnehmerinnen, die sich einen IT-Beruf vorstellen können, nicht immer noch zu wenig? Oder die 17 % der Mädchen, die einem technischen Beruf nicht ganz abgeneigt sind?
Laut Statista – „Wie weiblich ist die IT“ – liegt der Anteil weiblicher IT-Fachkräfte bei Apple bei 23 Prozent, bei Google sind es 20 und bei Facebook und Amazon sind es jeweils 19 Prozent. Das Problem ist, dass solch große Unternehmen und der zukunftsträchtige IT-Sektor im Allgemeinen große Macht haben. Macht und Geld, an dem Frauen nicht partizipieren.
Laut Computerwoche liegt der Frauenanteil in drei Viertel aller IT-Unternehmen hierzulande bei unter 25 Prozent. Auf offene Stellen in diesem Fachbereich würden sich je nach Position nur 10 bis 20 Prozent Frauen bewerben.
Fachkräfte werden in den so genannten MINT-Berufsgruppen dringend gesucht. Doch trotz der guten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt entscheiden sich Frauen nach wie vor seltener für ein Studium in einem MINT-Fach als Männer (Destatis).
Aus wenig werden weniger Frauen: Leaky Pipeline
Die wenigen Fachfrauen, die es gibt, verlassen die Branche leider auch allzu oft wieder. Mehr als 90 Prozent (!!!) der Hochschulabsolventinnen in Informationstechnologie sind im Alter von 45 Jahren nicht mehr im IT-Sektor tätig.
Ähnlich sieht es bei universitären Laufbahnen von Frauen aus. Auch in Fächern, in denen die Geschlechterverteilung nahezu ausgeglichen oder der Frauenanteil sogar höher ist, kippt das Gleichgewicht spätestens nach der Promotion. Je höher die akademische Karrierestufe, desto weniger Frauen. Dieses Phänomen wird „Leaky Pipeline“ genannt. Leckende Pipeline. Die Frauen versickern quasi.
Woran das liegt, haben meine Kollegin Sonja Koppitz und ich im Podcast „Die Alltagsfeministinnen” besprochen. In der Folge „FOMO Feminismus – muss ich Karriere machen?”. Girlboss vs. „Frauenberuf” – das ist die Entscheidung vor der Nele steht. Sie hat mit zwei kleinen Kindern ihr Chemiestudium durchgezogen und könnte in der Forschung Karriere machen. Gleichzeitig wünscht sich Nele Vereinbarkeit und weniger Stress.
Neles Dilemma: Sie fühlt sich als Feministin verpflichtet, Role Model & Wegbereiterin für Frauen in den Naturwissenschaften zu sein. Andererseits merkt sie, dass das mit zwei Kindern vermutlich mehr Kraft kostet, als sie hat.
- Was, wenn der Führungsjob mit Verantwortung keinen Spaß macht?
- Was, wenn die oft angeprangerten Berufseinsteiger:innen der GenZ kein Leben auf der Überholspur führen möchten, sondern Wert legen auf Work-Life-Balance?
„Vor allem Frauen wird eingetrichtert, dass sie sich mit individuellem Ehrgeiz aus gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten befreien können”, schreibt die Autorin Nadia Shehadeh in ihrem Buch „Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen”.
Dennoch: Junge Mädchen und Frauen müssen eine Wahlfreiheit haben. Sie müssen alles werden können, was sie wollen. Ob sie nun Chefin eines FinTec- Unternehmens werden wollen, Olympiasiegerin im Dressurreiten oder Erzieherin. Sie müssen die Chance haben, alles erreichen zu können, wovon sie träumen.
Was ist dran am Dream Gap?
Selbstzweifel beginnen bereits im Kindesalter. „Ab dem fünften Lebensjahr glauben Mädchen nicht mehr daran, dass sie Präsidentinnen, Wissenschaftlerinnen, Astronautinnen, Ingenieurinnen und Geschäftsführerinnen werden können”, sagen die Mädchen im Mattel-Video.
- Hören Mädchen wirklich auf zu glauben, dass sie alles tun oder werden können, was sie wollen?
- Und wenn ja, liegt es an mangelndem Selbstvertrauen oder an gesellschaftlichen Barrieren?
Forscher:innen der New York University führten drei Studien zum Thema „Gender Gaps in Children’s Interest in Leadership Roles” durch. Zu deutsch: Geschlechtsspezifische Unterschiede beim Interesse von Kindern an Führungsrollen. Sie zeigten unter anderem, dass sich Mädchen weniger mit einer Führungsrolle identifizieren als Jungen und diese Unterschiede bereits im frühen Kindesalter beginnen können. Mädchen erwarten außerdem eine geringere soziale Unterstützung als Jungen, wenn sie eine Führungsrolle übernehmen.
Auch bei Ambitionen im Sport zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede.
Basierend auf 81 Interviews von 12- und 13-jährigen sportbegeisterten Kindern zeigt eine norwegische Studie, dass die Mehrheit der befragten Jungen Profisportler werden und dafür „all in“ gehen will, aber nur sehr wenige der Mädchen. Die Autorin der Studie kommt zu dem Schluss, dass die Präsenz überwiegend männlicher Profisportler in den Medien oder Erfahrungen mit ungleicher Verteilung, etwa einer stärkeren finanziellen Unterstützung des Jungensports wichtige Einflussfaktoren sein können.
Wir brauchen jede Hand und jedes Hirn
„Wir müssen brillante Frauen sehen, die Brillantes tun – und sehen, wie sie dorthin gekommen sind, wo sie sind, damit wir uns vorstellen können, das zu tun, was sie tun”, stellen die Mädchen im Mattel-Video fest.
Und natürlich gibt es viele positive Beispiele für erfolgreiche Athletinnen, für Frauen in hohen politischen Ämtern, als Expertinnen in der Wissenschaft oder in Aufsichtsräten großer Unternehmen. Aber vielleicht reicht das noch nicht.
Die Meeresbiologin Prof. Dr. Antje Boetius beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Klimawandels auf die Artenvielfalt des Arktischen Ozeans. Zum „International Day of Women and Girls in Science”, der jedes Jahr am 11. Februar stattfindet, schrieb sie im vergangenen Jahr einen Artikel unter dem Titel „Diversity in science. Filling the dream gap”.
Angesichts von Klima-, Biodiversitäts- und Gesundheitskrisen sei es eine riesige Aufgabe für Forschung und Gesellschaft, ein nachhaltiges Zusammenleben zu sichern. Dafür brauche es „jede Hand und jedes Hirn”.
„Als ich aufwuchs, war ich davon überzeugt, dass mir die Welt offenstand”, schreibt Boetius. „Während meiner ersten Jahre in der Wissenschaft begegnete ich inspirierenden weiblichen Vorbildern in der Meeresforschung: erfolgreich, klug, mutig, in die Tiefen der Meere tauchend und das Unbekannte im Ozean erforschend. Und so glücklich über ihre Arbeit, wie auch ich es sein wollte. Für mich sind die Verfügbarkeit von Vorbildern, die Möglichkeit, von einem anderen Leben und von verschiedenen Berufen zu träumen, die in greifbarer Nähe erscheinen, ein Schlüsselfaktor dafür, dass Kinder von der Berufswelt fasziniert werden.”
Antje Boetius fragt sich, warum die Mehrheit der Mädchen und Frauen immer noch von Berufen in Naturwissenschaften und Technik ausgeschlossen sei und appelliert an Eltern, Familien, Freunde sowie Bildung, Medien und Spielzeugindustrie, ihre Rolle zu übernehmen, die noch bestehende Traumlücke zu schließen. Insbesondere bei Mädchen.
Es geht darum, Mädchen zu ermutigen und zu bestärken, sich Herausforderungen zu stellen und ihre Träume zu verfolgen. Es sollte dabei nicht nur um Erfolg, sondern auch um Erfüllung gehen. Darum, dass Träume nicht nur Träume bleiben, sondern dass die Mädchen von heute als Frauen von morgen ein erfülltes Leben leben können.
Die Mädchen im Video beenden ihr Plädoyer mit einem Appel: „Mütter, Väter, Brüder und Chefs, wir brauchen die Hilfe von euch allen! Wir müssen den ‚Dream Gap‘ schließen, es liegt an uns allen.”
Spielerisches Empowerment für Mädchen und junge Frauen
⇨ Rebel Girls
Rebel Girls ist eine globale, von Frauen geführte Empowerment-Marke, die es Mädchen ermöglichen will, große Träume zu haben – durch die Verbreitung von Geschichten, Büchern und Spielen über echte weibliche Role-Models. Um Mädchen zu inspirieren, tief in Naturwissenschaften, Technik, Ingenieurwesen und Mathematik einzutauchen, stellt der Rebel Girls Blog 10 berühmte Wissenschaftlerinnen vor.
⇨ Bataille Féminsiste
König schlägt Königin? Von wegen! Im gendergerechten Kartenspiel Bataille Féministe wird spielend Gleichstellung geübt und gegen Stereotype angespielt.
König und Königin sind gleichberechtigt die höchsten der 52 Spiel-Karten. Neben Männer und Frauen werden auch Schwarze/PoC gleichberechtigt gezeigt.
⇨ Feministinnen-Orakel
Ratschläge von 50 der inspirierendsten Frauen der Welt sind im Feministinnen-Orakel vereint und bieten Orientierung in der patriarchalen Welt. Wie würde wohl Angela Davis einen gesellschaftlichen Wandel anschieben? Wie will Agnes Varda die „gläserne Decke” durchbrechen? Und wie zur Hölle bringt Jacinda Ardern Familie und Karriere unter einen Hut? Einfach eine Karte ziehen und von Feministinnen durch jedes Dilemma leiten lassen!
Weiterführende Links
⇨ Komm, mach MINT!
Was muss das Handy der Großmutter können? Wie können Textilien ressourcenschonend produziert werden? Wo kommt der Strom der Zukunft her? Kluge Fragen brauchen kluge Frauen. Auf dieser Plattform finden Schülerinnen, Studentinnen sowie Lehrkräfte und Eltern Orientierung bei den Themen Studien- und Berufswahl.
⇨ Zukunftsindustrie.de
Die Stellenbörse auf dem Karriereportal der Metall- und Elektroindustrie bietet mehr als 10.000 freie Ausbildungsplätze, rund 8.000 Praktika und fast 3.000 Studienangebote.
⇨ Coaching4future.de
Das Bildungsnetzwerk Baden-Württemberg zeigt Schüler:innen, wie spannend, vielseitig und kreativ MINT-Berufe sind. Direkt im Klassenzimmer oder in zwei Erlebnis-Lern-Trucks auf dem Schulhof. Mit jungen Coaches, die selbst aus dem MINT-Bereich kommen.
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Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata ist Mutter, Therapeutin, Medizinanthropologin und Co-Gründerin von Deutschlands erster Ausbildungsinstitution für Feministisches Coaching. Ihr Ziel ist es, Alltagsfeminismus als Prozess gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten und Frauen und Männern gleichermaßen dabei zu unterstützen, einen lebenspraktischen Feminismus in ihrem Alltag zu etablieren.
Mit dem rbbKultur-Podcast «Die Alltagsfeministinnen» erreicht ihre Arbeit ein breites Publikum. In ihrer Privatpraxis bietet sie ein stark gebuchtes Coachingprogramm zum Thema an. Johanna Fröhlich Zapata lebt mit ihrer erweiterten Familie in großer Fürsorge-Gemeinschaft in Berlin.
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