Ich mache mir Sorgen um das Verhalten meiner 2,5-jährigen Tochter. Denn: Sie verhält sich so, wie man es landläufig nun mal von kleinen Mädchen erwartet. Sie schminkt sich, sie kämmt sich, sie zieht ständig Röcke an. Falls sie wider Willen eine Latzhose angezogen bekommt, möchte sie ein anderes Outfit.
Das “Mädchenhafte” zeigt sich aber vor allem auch darin, dass sie sehr fürsorglich ist. Sie trägt anderen Kindern ständig die Sachen hinterher und zieht sie an, als seien sie kleine Puppen und als sei die Aufgabe meiner Tochter, sich um sie zu kümmern. Ich könnte eine Million Beispiele für ihre überbordende Fürsorge nennen!
“Warum machst du dir deswegen Sorgen?”, fragt meine innere Stimme. “So ein ausgeprägtes Sozialverhalten ist doch toll! Andere Kinder hauen und beißen!” Aber ich möchte kein Mädchen heranzüchten, die ein Mutti- und Hausfrauen-Dasein trainiert, indem sie mit Rüschenschürzen in ihrer Spielküche steht. “Warum rufst du da um Hilfe…” – wieder meine innere Stimme – “…du trägst doch selbst gern Kleider, lackierst dir die Fingernägel und bist für andere da!” Punkt für die innere Stimme. Vielleicht ahmt mich meine Tochter nur nach?
Was mir wirklich widerstrebt ist auch nicht das Verhalten meiner Tochter, sondern die Geschlechterstereotype, die in unserer Gesellschaft (immer noch) vorherrschen.
Junge? Mädchen? Kind!
Es heißt, Mädchen spielen mit Puppen, haben ruhig, höflich und gut erzogen zu sein. Sie würden mehr Emotionen zeigen – insbesondere mehr Zuneigung und Fürsorglichkeit als Jungen. Mädchen seien nicht so sportlich und weniger an Wissenschaft interessiert. Lego Technik landet bei Mädchen in der Ecke. Stattdessen malen, lesen und kneten sie lieber.
Diese Zuschreibungen beginnen meist schon vor der Geburt. Die Erfahrung hat auch Maja gemacht. Davon berichtet sie in meinem Podcast “Die Alltagsfeministinnen”. Maja ist schockiert, wie schnell das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes schon in der Schwangerschaft zum Thema wird. Sie versucht ihren Sohn ohne Geschlechterklischees zu erziehen. Aber sie merkt: Das ist gar nicht so einfach – vor allem im Kontakt zu den Großeltern wimmelt es nur so von Zuschreibungen und Rollenklischees. Wie man da kontert, hörst du in der Folge
“Es ist ein Kind! – Tipps für eine geschlechtssensible Erziehung)
Aber woher kommen eigentlich unsere Stereotype? Wenn man sich die Geschichte der Mädchenerziehung anguckt, kann man weit zurückgehen: Schon im alten Griechenland war die Erziehung von Mädchen auf häusliche Fertigkeiten beschränkt. Mädchen wurden darauf vorbereitet, Ehefrauen und Mütter zu sein. Wobei: In Sparta erhielten Mädchen eine körperliche Erziehung und durften an sportlichen Aktivitäten teilnehmen. Hört, hört! Allerdings ging es auch hier nur darum, starke und gesunde Mütter aus ihnen zu machen.
Über die Laufe der Jahrhunderte, vom Mittelalter bis zur Neuzeit, waren die Bildungschancen für Mädchen stark eingeschränkt. Mit einigen Lichtblicken. Martin Luther betonte die Notwendigkeit, dass Mädchen lesen und schreiben lernen. Aber wohl weniger, damit sich die Mädchen frei entfalten, sondern vielmehr, damit sie die Bibel lesen konnten. Während der Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert forderten Frauenrechtlerinnen wie Mary Wollstonecraft eine bessere Bildung für Mädchen. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg – als viele Männer auf dem Schlachtfeld blieben – waren Frauen dann plötzlich gut genug, um Trümmer zu schleppen und in Fabriken zu arbeiten. Nur um in den 1950ern dann wieder einen geschlechterstereotypischen Backlash hinzulegen, sich stundenlang die Haare zu ondulieren und dem Göttergatten die Pantoffeln hinzustellen.
Die Rosa-Hellblau-Falle
Und heute? Auf dem Papier sind wir hierzulande theoretisch alle gleichberechtigt. Allerdings wird am Spielzeugregal dann doch eine harte Trennlinie gezogen. Rosa für die Mädchen, blau für die Jungen.
Doch das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert kleideten Eltern ihre Kinder lieber in weiß, schreibt Jo Paoletti, emeritierte Professorin an der University of Maryland in ihrem Buch Pink and Blue: Telling the Boys from the Girls in America. Weiß galt als neutral, das Geschlecht sollte um Himmels Willen nicht betont werden. “Geschlechtsspezifische Kleidung galt als unangemessen für kleine Kinder, deren asexuelle Unschuld oft als einer ihrer größten Reize bezeichnet wurde“, schreibt Paoletti.
Diese Zeiten sind vorbei. Nicht nur die Kleidung, sondern auch das Spielzeug unserer Kinder ist überwiegend in Rosa vs. Hellblau und Glitzer vs. Action aufgeteilt. Eine Freundin von mir ertappte sich eines Tages im Spielzeugladen dabei, wie sie sich ganz diebisch freute, dass es von Playmobil eine Fußballspielerin gibt. Sie kaufte sie ihrer Nichte – nur um vom Neffen mit den Worten “Mädchen spielen doch kein Fußball” abgekanzelt zu werden! Er war schon voll drin im stereotypen Geschlechtergame. Er hat das Gendermarketing der Spielzeugindustrie gänzlich verinnerlicht.
Wie soll da eine Kindheit ohne Rollenklischees funktionieren?
Auch dazu gibt es eine Podcast-Folge: Erziehung ohne Geschlechterklischees. Darin erklären Almut Schnerring und Sascha Verlan, die selbst vier Kinder haben, warum die Rosa-Hellblau-Falle gar nicht lustig ist.
Gruselkabinett des Gendermarkertings
Almut und Sascha sind Gründer des Vereins „klischeesc“, der unter anderem den „Equal Care Day“ und die Verleihung des „Goldenen Zaunpfahls“ organisiert.
Mit dem Negativpreis “Goldener Zaunpfahl” werden jedes Jahr besonders absurde Beispiele für Gendermarketing ausgezeichnet. Und da gibt es ein ganzes Gruselkabinett, bei dem ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll. Es gibt zum Beispiel einen smarten Rauchmelder für “Väter, Vermieter und Vorausdenker”. Na klar! Der Mann auf der Verpackung sorgt im Vordergrund stolz für die Sicherheit der Familie, während die Mutter im Hintergrund die Kinder schunkelt. Ungleich verteilte Care-Arbeit, ick hör’ dir trapsen! Übrigens leiden auch Männer darunter, ständig als starke Beschützer gesehen zu werden. Sie kommen nämlich in Wirklichkeit nicht mit einer Ritterrüstung aus Stahl zur Welt. Sie haben – völlig zu Recht – auch Schwächen: zum Beispiel zu vergessen, die Batterien des Rauchmelders zu wechseln. Daran muss wohl die mental-load-geplagte Frau denken. Nur um noch weitere Klischees zu bedienen.
Aber natürlich übernehmen auch Männer Care-Arbeit. Und können sich dabei trotzdem wie echte Männer fühlen. Dank des “Daddynator”: ein “Wickelrucksack für echte Väter” (Zitat). Er kommt in klassischem Army-look daher, um zu verdeutlichen, dass sich Daddy zwischen den Wickeljobs trotzdem auf dem Bauch robbend durchs dichte Unterholz schlagen kann, wie ein Actionheld. Nahkampf, Windelkampf – eigentlich dasselbe.
Die meisten der Produkte in diesem Kuriositätenkabinett des Gendermarketing richten sich an ein (binäres) Geschlecht. Mann oder Frau. Von der Firma Kneipp gibt es Mineralstoff-Brausetabletten für Sie oder Ihn. Männer brauchen demnach wohl vor allem Magnesium, Selen, Zink und Vitamin B12 (für ihre Muskeln?) – Frauen hingegen Eisen, Jod und Folsäure (Klar! Für Haut, Haare und Zyklus!). Dumm nur, dass wir alle eigentlich alles brauchen…
Ich bin gespannt, welche Produkte dieses Jahr einen Wink mit dem Goldenen Zaunpfahl bekommen. Die Verleihung findet am 11. November 2024 statt. Ich sitze in der Jury und bin froh, somit vielleicht die ein oder andere Firma wachrütteln zu können, denn stereotypes Gendermarketing hat Einfluss – besonders auf unsere Kinder.
Folgen der Pinkification
Vielleicht spielen Kinder einfach gerne Prinzessin oder Superheld. Und die Rollen dahinter sind einfach nur unsere erwachsenen Übertreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Schubladen, in denen Kinder (zunächst) nicht denken. Spielzeuge helfen Kindern, neue Fähigkeiten zu erlernen und sich kognitiv weiterzuentwickeln. Spielen heißt lernen. Was bedeutet es also für unsere Kinder, wenn Spielzeug und Kleidung enge Bahnen vorgeben?
Für Kinder zwischen drei und fünf Jahren ist das Geschlecht sehr wichtig. Sie orientieren sich dabei an ihrem Umfeld. Was gibt es im Spielzeuggeschäft? Womit spielen andere? In einem Experiment bekamen Kinder Spielzeug, das sie vorher noch nie gesehen hatten. Es war in Mädchen- bzw. Jungenkisten verstaut. Die Mädchen spielten daraufhin mit den “Mädchenspielsachen”, die Jungen mit den “Jungenspielsachen”. Sowohl die Jungen als auch die Mädchen zeigten nur wenig Interesse an dem Spielzeug, das dem jeweils anderen Geschlecht zugeschrieben wurde.
Spielzeugtyp, -bezeichnungen und -farben spielen eine wichtige Rolle bei der Spielzeugauswahl und der Entstehung und Aufrechterhaltung von Stereotypen, welche Spielzeuge für Mädchen und Jungen akzeptabel sind. Die bekannteste Studie zu dem Thema ist wohl die “Pink gives girls permission”-Studie von Erica S. Weisgram und ihren Kolleginnen. Die Untersuchung zeigt, dass genderspezifisches Spielzeug die jeweiligen Interessen von Mädchen und Jungen beeinflusst.
Forschende vermuten außerdem, dass geschlechtsspezifisches Spielzeug mit unterschiedlichen Berufsinteressen, sozialen Interaktionen, Verhaltenstendenzen sowie mit der körperlichen und psychischen Entwicklung zusammenhängen könnte. (Mehr Studien zum Thema gibt es hier.)
Wird bei der Wahl des Spielzeugs schon der Grundpfeiler für die spätere Berufswahl und damit für den Verdienst unserer Kinder gelegt? Fängt es bei BabyBorn bzw. Feuerwehrmann Sam an und endet beim Gender Pay Gap und Gender Pension Gap? Ich will nicht allzu kulturpessimistisch sein und frage mich in Bezug auf meine Tochter:
Was tun?
Ich versuche, die Werbung immer wieder zu ignorieren. Ich kaufe Spielzeug, Kleidung und Kostüme jenseits der Klischees. Ich versuche Geschlechtergrenzen zu überschreiten und meiner Tochter eine größere Vielfalt zu bieten.
“Aber wer zahlt am Ende den sozialen Preis? Wer wird im Kindergarten gehänselt? Tust du deiner Tochter damit nicht Unrecht?” Die innere Stimme wird wieder laut.
Ich entgegne: Unsere Kinder sollen sich doch einfach frei entfalten können. Sie brauchen Wahlfreiheit und dafür müssen wir ihnen Angebote machen!
- Vorbild sein
Zeigt euren Kindern durch euer eigenes Verhalten und durch die Wahl der Medien, die ihr zusammen konsumiert, dass Geschlechterrollen flexibel sind. Lest Bücher und schaut Filme, die vielfältige Rollenbilder präsentieren. - Offene Kommunikation
Sprecht mit euren Kindern, dass es in Ordnung ist, sich auf unterschiedliche Weise auszudrücken und verschiedene Interessen zu haben. Erklärt, dass Menschen aller Geschlechter gleichwertig sind und die Freiheit haben, das zu tun, was sie glücklich macht. - Ermutigung zur Selbstentfaltung
Unterstützt eure Kinder darin, ihre eigenen Interessen und Talente zu entdecken und zu entwickeln. Bestärkt sie darin, selbstbewusst ihre Meinung zu äußern und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. - Kritisch Hinterfragen
Hinterfragt eigene Stereotype und überlegt, wie sie euer Verhalten und eure Erwartungen beeinflussen. Achtet darauf, keine unbewussten Geschlechterstereotype zu verstärken, z. B. durch Kommentare wie „Das ist nichts für dich“.
Wenn ich meine Tochter jedenfalls so anschaue, sehe ich ein starkes, selbstbewusstes Individuum. Ich hoffe, dass sie sich nicht durch einschränkende gesellschaftliche Normen begrenzen lässt und ihre innere Kritikerin nicht so laut schimpft, wie meine…
Bücher zum Thema:
Almut Schnerring und Sascha Verlan: „Die Rosa-Hellblau-Falle. Für eine Kindheit ohne Rollenklischee“; dtv, 20,00 Euro
Christia Spears Brown: Parenting Beyond Pink and Blue: How to Raise Your Kids Free of Gender Stereotypes; Penguin Random House, 14,99 Euro
Was können wir tun?
Du fragst Dich jetzt vielleicht, was Du ganz persönlich tun kannst, um Deinem Kind ein feministisches Vorbild zu sein. Das wichtigste Erbe, was wir unseren Kinder mitgeben können, ist das Überwinden des eigenen patriarchalen Implantats.
Dafür habe ich das Alltagsfeminismus-Coaching-Programm entwickelt. Im Format einer ganz persönlichen Jahresbegleitung, kannst Du lernen, nach Deinen feministischen Idealen zu leben in einer Welt, die Deinen Idealen leider nicht entspricht.
Melde Dich gern mit einer Mail an johanna@alltagsfeminismus.de mit Deinem Anliegen.
Mit den besten alltagsfeministischen Grüßen,
Deine Johanna
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Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata ist Mutter, Therapeutin, Medizinanthropologin und Co-Gründerin von Deutschlands erster Ausbildungsinstitution für Feministisches Coaching. Ihr Ziel ist es, Alltagsfeminismus als Prozess gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten und Frauen und Männern gleichermaßen dabei zu unterstützen, einen lebenspraktischen Feminismus in ihrem Alltag zu etablieren.
Mit dem rbbKultur-Podcast «Die Alltagsfeministinnen» erreicht ihre Arbeit ein breites Publikum. In ihrer Privatpraxis bietet sie ein stark gebuchtes Coachingprogramm zum Thema an. Johanna Fröhlich Zapata lebt mit ihrer erweiterten Familie in großer Fürsorge-Gemeinschaft in Berlin.
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