Sarah Ulrich interviewt Johanna Fröhlich Zapata
Ich durfte der großartige Journalistin Sarah Ulrich ein Interview geben.
Kennengelernt habe ich Sarah Ulrich 2020 im Rahmen des Feministischen Kunstfestivals „Who Cares“, auf dem sie für ihren taz-Podcast „We care“ eine Folge produzierte. In dieser Folge zu den „Visionen einer fürsorglichen Gesellschaft“ sprechen Yildiz Akgün, Valentina Karga, Magdalena Kallenberger und ich mit Sarah Ulrich über feministische Utopien, konkrete Handlungsmöglichkeiten, Schwierigkeiten der Fürsorge-Praxis und darüber, welche Schritte uns zu einer fürsorglichen Gesellschaft führen können.
Im nachstehenden Interview fragt Sarah Ulrich mich zum Alltagsfeminismus Coaching-Programm aus.
Johanna Fröhlich Zapata ist Feministin, Sozialwissenschaftlerin und Therapeutin. Mit ihrem Coaching-Programm unterstützt sie Frauen dabei, Feminismus dort zu leben, wo es am schwierigsten ist: Im ganz normalen Alltag.
Interview: Sarah Ulrich
Frau Fröhlich Zapata, Sie haben ein Programm entwickelt, das Frauen aus einer psychologischen Perspektive heraus begleitet, alltagsfeministisch sein zu können. Was bedeutet das – Alltagsfeminismus?
Johanna Fröhlich Zapata: Ich habe beobachtet, dass vor allem Frauen, die schon viel darüber wissen, wie es um die ganzen Zusammenhänge der gender gaps – also der Geschlechterungleichheiten – bestellt ist oftmals im Alltag zu kämpfen haben, beispielsweise wenn sie Kinder kriegen. Die sagen: „Ich habe dieses und jenes Buch gelesen, aber ich weiß nicht, wie ich aus meinen Handlungsimpulsen heraus komme. Ich fühle mich schuldig und abhängig.“ Oder sie haben ein Burnout, weil sie versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen. Oftmals können sie diesen knowledge-action-gap nicht schließen. Trotz der Reflektionen sind wir davon geprägt, dass wir ein Teil des Systems sind. Wir haben eine kulturelle Prägung, eine Sozialisation, sind Repräsentantinnen des Patriarchats. Ich habe gemerkt, es braucht da eine Brücke in den Alltag: Was passiert, wenn niemand zuschaut? Wie feministisch bin ich wirklich? Da geht es um die die Revolution der Dinge im Kleinen – die fehlt uns, und zwar im Alltag.
Um welche Dinge geht es da konkret?
Fragen wie, wo stecke ich meine Zeit rein und was hat das mit meiner Sozialisation als Frau zu tun? Was hat diese ganze feministische Theorie mit mir zu tun? Oder Merkmale, die darauf abzielen, gemocht zu werden. Es braucht einen Moment, das anzuerkennen, zu merken: Ja, auch ich bin betroffen. Das ist die Aufgabe der letzten feministischen Welle.
Was bedeutet das – letzte Welle?
Ich glaube, dass wir die Gefühle mitnehmen müssen und das bisher in der feministischen Theorie zu kurz gekommen ist. In der feministischen Theorie geht es mehr um gesellschaftliche Zusammenhänge, in der Psychologie hingegen um das Individuelle. Ich glaube wir müssen das zusammendenken: Was ist individuell in dem gesellschaftlichen Rahmen möglich? Es ist an der Zeit, unseren Körper und unsere Gefühle mitzudenken und mitzunehmen.
Sie sind Medizinanthropologin, Gestalttherapeutin und Heilpraktikerin – wie greifen diese Bereiche ineinander?
Ich habe festgestellt, dass es total wertvoll ist, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Ich habe in der Medizinanthropologie zu verschiedenen Themen geforscht, die alle einen Genderfokus hatten – female cosmetic surgery, Behaarung etc. Dann bin ich weitergegangen und habe als Therapeutin beobachtet, dass individuelle Anliegen mit bestimmten Prozessen zusammenhängen. Als Heilpraktikerin habe ich gemerkt, dass spezifische Erfahrungen Frauen oft hinten runterfallen. Aus den verschiedenen Perspektiven schaue ich dann, wie ein individueller Weg mit dem Bewusstsein über gesellschaftliche Missstände aussehen kann, ohne dabei die Probleme zu individualisieren, was in der Psychologie häufig passiert. Ich versuche Empowerment und Handlungsmöglichkeiten immer im Kontext zu betrachten – familiär wie gesellschaftlich. Den Ist-Zustand zu akzeptieren und immer wieder anzuschauen, auch mit Blick auf dem Körper. Es ist wichtig, die Gefühle mitzunehmen. Und zu sehen, dass das in einander greift, sich die Perspektiven gegenseitig bereichern. Wissenschaftstheoretisch läuft das vielleicht diametral gegeneinander, aber im Alltag ist es wichtig, diese Perspektiven einzunehmen. Es kann zum Beispiel eine große Verliebtheit geben – dennoch ist es wichtig, die Themen anzugehen, die wenig romantisch sind. Widersprüche zuzulassen ist Teil meiner Arbeit.
Das meinen Sie mit Coaching auf drei Ebenen: persönlich, in der Beziehung, gesellschaftlich?
Ja, diese drei Ebenen haben sich aus dem Perspektivwechsel ergeben. Ich habe gemerkt, dass wir bei uns selbst anfangen müssen, uns selbst im Bezug auf Feminismus anschauen müssen. Dann müssen wir die Beziehungen anschauen, das sind Methoden der Gestalttherapie dabei: In den Kontakt und wieder zurück zu kommen. Aber nach ‚ich und du‘ kommt auch noch ‚ich und die Welt‘, die Frage wie viel hat der Kontext, Erwartungen oder der Blick auf Gesellschaft uns auch eingefärbt? Da geht es um die Suche nach einem Weg mit und in diesem System Patriarchat. Da kommt es bei Klientinnen oft zu einem richtigen Aha-Effekt, wenn sie sehen, dass wir alle mitbestimmen können.
Um Ungleichheiten zwischen heterosexuellen Paaren aufzuzeigen und gegenzurechnen, haben Sie den Care-Rechner entwickelt. Ziel ist, eine Equal Care Verteilung zu erreichen. Ist es denn sinnvoll, Fürsorge in einen Geldwert umzurechnen?
Equal Care ist zunächst ein Sichtbarmachen der unsichtbaren Aufmachen und vieler Dinge, die wir als care gar nicht mitdenken, emotional oder mental load zum Beispiel – also emotionale und mentale Verantwortungsübernahme. Wichtig ist auch zu sehen, welche Arten von Aufgaben Männer übernehmen und welche Frauen und welche Merkmale diese Aufgaben haben und welchen Effekt das auf unsere psychische Gesundheit hat. Frauen übernehmen mehr Aufgaben, die das System am Laufen halten, während Männer Aufgaben übernehmen, die man sich frei einteilen kann.
Zum Beispiel?
Frauen machen öfter Abendessen, das ist existenziell zum Überleben, das braucht man einfach. Männer hingegen übernehmen öfter das Rasenmähen, das Auto fit machen, etc. Klar ist das auch Mental Load, aber diese Aufgaben die kann man sich frei einteilen, da geht es nicht ums Überleben.
Es gibt da keine Patentlösung. Was ich leisten möchte ist eine Aufklärung. Die Zahlen die dem Care-Rechner zugrunde liegen, zeigen anhand von wissenschaftlichen Daten, wie der aktuelle Zustand ist. Das hat den Effekt zu merken: „Oh krass, das hat was mit mir zu tun.“ Auch wenn ich mehr oder weniger Care Arbeit leiste, als der deutsche Durchschnitt, bin ich trotzdem weiblich sozialisiert. Es geht darum, sich diese Dinge einmal genau anzuschauen. Dann ist man plötzlich bei einer halben Millionen Euro bei Mindestlohn.
Aber unterliegt diese Ökonomisierung der Care-Arbeit nicht auch wieder der gleichen kapitalistisch-patriarchalen Logik?
Ich möchte keine Verökonomisierung der Gesellschaft. Trotzdem ist es glaube ich ein Startschuss. Es ist wie eine Aufnahme des Ist-Zustandes mit dem Ziel, daran weiterzuarbeiten. Eine Möglichkeit, innerhalb des Systems eine Sichtbarkeit zu schaffen und so eine gleiche Verteilung möglich zu machen. Die Ziele sind andere, zum Beispiel Fürsorge-Erwerbsmodelle eine Vier-Tage-Woche, Grundeinkommen oder ähnliches.. Ich fände es furchtbar, wenn sich jetzt Männer Frauen durch den Rechner quasi ‚leisten‘ und ihre Care-Arbeit in Geld auszahlen. Aber der Arbeitsbegriff steht auch auf dem Spiel: Was ist Arbeit? Wie wichtig ist emotionale Arbeit und Fürsorge-Arbeit?
Also eine Umrechnung der Care-Arbeit in Geldwert als Mittel zum Zweck?
Ja genau, das Tool soll der Wertschätzung dienen. Einschätzen zu können, was diese Arbeit für einen Wert hat und den Wert der investierten Zeit messen. Da ergeben sich nun einmal echte Nachteile: Rentenzahlung, Berufschancen, etc. Diese Dinge wollen mitgedacht werden, aber eigentlich geht um die Wertschätzung der unbezahlten Arbeit. Das Trösten und Kümmern ist so wichtig, zu zeigen, du bist es wert. Wir brauchen das. Wir brauchen ein Verfürsorglichung dieser Gesellschaft.
Was meinen Sie damit?
Ich habe mal gehört, wir bräuchten eine Vermütterlichung unserer Gesellschaft. Das hat mich total fertig gemacht. Ich bin sicher, es gibt so etwas wie einen ‚Mutterinstinkt‘ nicht, das ist alles kulturelle Prägung, diese Zuschreibung der fürsorgenden Aufgaben an die biologische Frau. Wir brauchen stattdessen eine Wertschätzung dieser Fürsorge-Arbeit, denn das ist die Basis aller Ungerechtigkeiten in Bezug auf gender gaps. Wir brauchen eine Verfürsorglichung, weil diese Aufgaben menschlich einen so großen Wert haben. Und der soll bitte überall anerkannt und gesehen werden. Mütter sollen sich nicht entscheiden müssen, sondern die Frage muss sein, wie die Familie es so organisieren kann, dass wir die Ziele, die wir gemeinsam stecken, auch schaffen. Es ist wichtiger prozessorientiert zu arbeiten und Fragen der Produktion, wie Lohnarbeit, nicht über die reproduktiven Arbeiten zu stellen. Also eine Gleichwertigkeit von Fürsorge-Arbeit mit Formen der Lohnarbeit zu erreichen.
Birgt der Fokus auf Gleichverteilung der Care-Arbeit zwischen Mann und Frau nicht auch den Fallstrick einer Biologisierung der heterosexuellen Geschlechter und Unsichtbarmachung queerer Perspektiven und Modelle?
Das ist wirklich schwierig, da habe ich auch viele Bauchschmerzen. Ungleichheiten wollen beim Namen genannt werden, aber sie darin nicht weiter zu reproduzieren ist so schwer. Die Daten, die ich zur Grundlage habe, orientieren sich auch nur an cishet Männern und Frauen. Es gibt kaum Daten über queere Lebensformen, die sind sehr unsichtbar. Es ist ganz schwierig, da genderfluide Perspektiven aufzugreifen.
Dabei können wir viel von queeren Lebensformen und Communites lernen, denn häufig sind es queere „communities of care“, die Modelle einer Umverteilung von Fürsorgearbeit und gerechteren Herangehensweise vorleben.
Ja, es ist auch ein Anliegen von mir, das in meiner Arbeit zu verändern. Dass wir schauen, was wir zum Zusammenleben brauchen. Ich lebe selbst in einer Gemeinschaft – habe aber fast ausschließlich Heteropaare im Coaching. Für mich ist das auch eine Herausforderung zu sehen, wie ich da weiterkomme. Auch das ist Alltagsfeminismus: Innerhalb dieses Systems Räume zu schaffen, in denen wir diesen politischen Kampf angehen und versuchen, andere Perspektiven mitzudenken.
Wir sind also noch ganz am Anfang?
Was Alltagsfeminismus angeht: Ja.
Sarah Ulrich
Sarah Ulrich ist freie Journalistin. Ihre Schwerpunkte sind investigative Recherchen und Reportagen zu Machtmissbrauch, Ausbeutung, Rechter und Genderbasierter Gewalt. 2022 wurde sie mit dem Journalistenpreis des Bayerischen BJV ausgezeichnet. Vom Medium Magazin wurde sie zudem 2022 als Top30 Journalist*innen unter 30 ausgezeichnet.
Für die taz hat sie den feministischen Podcast „We Care“ produziert.
Web: www.sarahulrich.me
Insta: @ulrich_srh
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