Feminists, we’ve got a problem! Neujahrsvorsätze. Alle Jahre wieder. Wir haben uns noch nicht mal das Lametta aus dem Haar gebürstet und den Weihnachtsbaum auf die Straße geschmissen, schon gaukelt uns der Jahreswechsel vor, wir könnten alles auf Null setzen, nochmal ganz von vorne beginnen – diesmal aber wirklich: Durchstarten! Ein Reset der Gezeiten quasi.
Die Fitnessstudios und die Early-Bird-Yoga-Klassen sind auf einmal wieder voll. Man muss nur genug wollen. Man muss nur jeden Tag 10.000 Schritte gehen, drei Liter Wasser trinken und jede Woche ein Buch lesen.
Dass das in den seltensten Fällen klappt, muss ich sicher nicht betonen.
Vielleicht liegt das Brechen von guten Neujahrs-Vorsätzen daran, dass wir die falschen gefasst haben… denn das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Aus guten Vorsätzen wird schnell Selbstoptimierung und irgendwann Selbstgeißelung. Wenn wir nämlich über das Sollen plötzlich das Wollen vergessen!
Wir müssen eh schon zu viel, wir sind schon in genug gesellschaftlichen Korsetts und patriarchalen Strukturen gefangen, als dass wir uns noch selbst Regeln auferlegen sollten, auf die wir eigentlich keine Lust haben. Als Alltagsfeministin plädiere ich ja immer für Wahlfreiheit. Wir sollten das tun können, was wir wirklich wollen. Doch was ist das eigentlich?
Statt Vorsätze zu fassen, kannst Du Dich auch fragen:
- Was will ich wirklich?
- Wie will ich leben?
- Und – fast die wichtigste Frage: Was ist mir heute möglich?
Wenn bei der Reflektion über diese Fragen ein paar Vorsätze herausspringen, auf die Du als persönliche Challenge oder die Möglichkeit der Weiterentwicklung wirklich richtig BOCK hast, dann nur zu! Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm!
Die Möglichkeit immer wieder selbst bei Dir einzuchecken und Dir die drei W-Fragen zu stellen: – Was will ich eigentlich wirklich? Wie will ich leben? Was ist mir heute möglich? – besteht übrigens jeden Tag. Nicht nur zum Jahreswechsel. Ist das nicht wunderbar? Wir können jeden Tag aufs Neue beginnen! Und: Wir können einmal getroffene Entscheidungen überdenken, über den Haufen werfen und Anderes ausprobieren, bis es sich schließlich stimmig anfühlt.
Wenn Du Inspiration brauchst, ist hier eine kleine Liste meiner alltagsfeministischen Vorsätze für 2024 – ohne Selbstoptimierungsdiktat und Produktivitätssteigerungsdruck.
1. Stärke Dich selbst
„Für mich selbst zu sorgen ist kein persönlicher Luxus. Es ist Selbsterhalt und damit ein Akt politischer Kriegsführung“, schrieb die Schwarze Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde im Hinblick auf von Rassismus betroffene Menschen. Oft stehen wir uns selbst viel kritischer gegenüber als anderen und versagen uns die Selbstfürsorge.
Ich versuche, mit mir selbst so zu reden wie mit meiner besten Freundin. Und ich frage mich: Was stärkt mich persönlich, was hilft mir und was tut mir gut? Sind es Familie und Freund:innen, Hobbies, Leidenschaften? Alles was mir gut tut, will gehegt und gepflegt werden, denn das ist mein kostbarster Schatz, meine Ressource, meine Kraftquelle, die Batterie zum Auftanken. Und vielleicht helfen all diese Dinge sogar auch anderen…
2. Stärke andere
Ich versuche empathisch und einfühlsam auf andere Menschen zuzugehen und die Leistungen der Menschen um mich herum wahrzunehmen und ihre Arbeit wertzuschätzen. Ich sage oft „Danke”, weil es anderen, aber auch mir selbst ein gutes Gefühl gibt. Ich versuche, andere unter meine Fittiche zu nehmen.
Als Vorgesetzte kannst Du Mentorin sein, als Kollegin Vertraute, als Freundin Beistand.
Wenn man ernst gemeinte Komplimente macht, sich gegenseitig lobt und unterstützt, kann ein heilsames Miteinander entstehen. Ein Raum voller Wertschätzung, Respekt und Empowerment. Es ist wohltuend, andere Menschen nicht als Konkurrenz, sondern als Verbündete wahrzunehmen, indem man sich auf das Verbindende anstatt auf das Trennende fokussiert.
Wie wichtig Kooperation und Solidarität sind, habe ich in diesem Beitrag: „Stutenbissigkeit”: Wie wird aus Konkurrenz Kooperation? bereits beschrieben. Und dennoch:
3. Setze Grenzen
Ein „Nein” zu anderen ist ein „Ja” zu Dir selbst. Diesen zugegebenermaßen etwas abgedroschen klingenden Kalenderspruch finde ich sehr hilfreich und auch sehr alltagsfeministisch. Denn das Patriarchat beruht unter anderem darauf, dass Frauen* oft über ihre Grenzen hinaus arbeiten. Stichwort Care-Arbeit: „Alleinerziehend mit Mann” – Die Sorge um die Fürsorgearbeit.
Wenn ich also meine eigenen (Belastungs-)Grenzen erkenne, kommuniziere und auf deren Einhaltung poche, ist das nicht nur Selbsterhaltung, sondern auch ein sowohl feministischer als auch politischer Akt! Drei Fliegen mit einer Klappe, yeah! Ich nehme mir also vor, darauf zu achten, was ich alles tue, nur weil andere es von mir erwarten.
Irgendwo las ich kürzlich sogar „’Nein!’ ist ein vollständiger Satz”. Wir haben das Recht NEIN zu sagen, auch ohne weitere Erklärung. Dabei wirst Du merken, das Neinsagen an sich ist nicht so schwer, wie das Aushalten der Reaktionen der anderen ist. Doch das kannst Du üben, indem Du Dir immer wieder vor Augen führst, dass ein „Nein” keine Ablehnung der anderen Person ist, sondern schlicht und ergreifend eine Bejahung Deiner selbst.
4. Übe Empathie
Empathie ist die Fähigkeit, die Gedanken und Gefühle anderer zu erkennen und durch angemessene eigene Emotionen und Verhaltensweisen zu reagieren. Das tolle ist, wir können unser Empathievermögen trainieren. In meinem feministischen Coaching hat Philipp erfahren, wie sich Empathie z.B. mit der Partnerin lernen lässt („Sei kein Held – Feministische Vaterschaft leben”).
Das Bewusstsein, dass Empathie vielleicht nicht immer im gleichen Maße vorhanden ist, hilft mir, wenn ich mal wieder von anderen genervt bin. Wenn ich in gewissen Situationen weniger patzig reagieren will, versuche ich mich in mein Gegenüber hineinzuversetzen. Ich halte mir vor Augen, dass alle Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Prägungen mitbringen.
Der aggressive Autofahrer an der Ampel wurde vielleicht gerade von seiner Freundin verlassen oder die unfreundliche Ärztin ist heillos überarbeitet. Dieser Perspektivwechsel verdeutlicht: In den meisten Fällen hat das alles rein gar nichts mit uns zu tun. Schon kann ich milder auf mein Gegenüber reagieren. Warum das feministisch ist? Weil es uns andere mitdenken lässt und uns so mehr verbindet, als trennt.
5. Raus aus der Bubble
Wir alle bewegen uns in einer gewissen sozialen Blase. Vielleicht ist diese Komfortzone für viele überwiegend weiß, cisgeschlechtlich und heterosexuell geprägt. Deswegen überprüfe ich mich immer wieder und frage mich: Wie Weiß ist unser Feminismus? Im Podcast “Die Alltagsfeministinnen” gehen wir in einer Folge („Skifahren, Fkk, Camping – NoGos für WOC”) zum Beispiel der Frage auf den Grund, wie wir (ohne White savior zu sein) zu einem Feminismus kommen, der Women of Colour ehrlich mitmeint, mitfühlt, mitdenkt…
Denn die eine Frau wird vielleicht “nur” diskriminiert, weil sie eine Frau ist. Die Nächste, weil sie eine Frau über 50 ist, die Übernächste, weil sie eine schwarze Frau über 50 ist und die Überübernächste, weil sie eine schwarze Muslima über 50 mit Kopftuch ist, die im Rollstuhl sitzt.
Die Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Formen von Diskriminierung nennt man Intersektionalität. Mehr zum Thema erfährst Du auch am Rande der Podcastfolge „Das Ende der Ehe – Sonderfolge mit Emilia Roig”. Falls Du nach Meinungen und Stimmen von Menschen mit anderen Lebensrealitäten suchst, hilft das Zuhören. Ob jung, alt, schwarz, weiß, reich, arm, dick, dünn, gesund, krank – erweitern wir unsere (Filter-)Blasen und lernen voneinander!
6. Hol alle ins Boot
Feminismus geht uns alle an. Nicht nur Frauen*. Auch Männer*. Denn gleichberechtigt leben können wir nur, wenn wir uns alle auf gemeinsame Werte verständigen und tradierte Rollenbilder gemeinsam über Bord schmeißen. Wenn ich merke, dass ein Mann* in meinem Umfeld echtes Interesse an Feminismus hat, dann hole ich ihn mit ins Boot, indem ich aufzeige, dass auch er möglicherweise unter dem Patriarchat leidet.
Die stereotype Vorstellung von Männlichkeit macht Männer nämlich unfrei. Vermeintlich starke Männer, denen der Zugang zu ihren Gefühlen aberzogen wurde und die, wenn überhaupt, nur heimlich weinen, helfen niemandem. Am wenigsten sich selbst. Statt toxischer Männlichkeit hilft kritische Männlichkeit: kritische Männer hinterfragen sich und ihre Rolle – so wie Flo, der im Podcast “Die Alltagsfeministinnen” in der Folge „Solo oder Solidarisch? Kritische Männlichkeit im Alltags-Check” erzählt, dass er Catcalls ernst nimmt und sich dagegen stark macht, aber keinesfalls ungefragt den Ritter spielen will.
Laury Penny schreibt in ihrem Buch „Unspeakable Things”: „Beim Feminismus ging es nie nur darum, Frauen von Männern zu befreien, sondern jeden Menschen von der Zwangsjacke der Geschlechterunterdrückung zu befreien. (…) Männlichkeit ist für die Politik wichtig, und Männer sind für den Feminismus wichtig. Ihre Gewalt ist wichtig, ebenso wie ihre Angst…”
7. Lerne aus Fehlern
Irren ist menschlich. Fehler machen auch. Deswegen versuche ich, mich nicht aus Angst vor Fehlern von etwas abhalten zu lassen. Fehler gehören schließlich zu jedem Lernprozess dazu – vor allem, wenn ich Dinge ausprobiere, die neu für mich sind und die ich (noch) nicht kann. Zu diesem Lernprozess gehört auch, sich Fehler einzugestehen und ggf. dafür zu entschuldigen, wenn man andere verletzt hat. Nächstes Mal weiß man es besser und macht es anders.
Denn unser Denken und Handeln ist nicht in Stein gemeißelt. Sogar die eigene Meinung kann/darf/muss man auch mal ändern, wenn man neue Erkenntnisse dazu gewonnen hat. Das ist keine Schwäche, das ist Weiterentwicklung. Und wenn es mal nicht voran geht? Auch das darf sein.
Für Vorsätze, Ziele und das Leben generell gilt: Sei lieb und wohlwollend zu Dir. Akzeptiere, wo Du gerade stehst, anstatt Dich mit zu großen Vorhaben zu überfordern. Unterteile Deinen Weg lieber in machbare Schritte. Wie genau das geht, beschreibt die psychologische Psychotherapeutin Miriam Junge sehr anschaulich und alltagsnah in ihrem Buch “Kleine Schritte mit großer Wirkung”.
8. Engagier Dich
Wir können uns politisch und sozial engagieren, indem wir nicht nur für uns und unsere Rechte einstehen, sondern auch für die Rechte anderer, die aufgrund finanzieller, körperlicher oder persönlicher Risiken nicht in der Lage sind, sich für sich selbst einzusetzen. „Jin, Jiyan, Azadi” ist die Parole der kurdischen Frauenbewegung. Auf Persisch heißt „Zan, Zendegi, Azadi”. Es bedeutet „Frauen, Leben, Freiheit”. Eine Parole, die seit der feministischen Revolution im Iran weltweit auf Demonstrationen skandiert wird.
Wir können uns also engagieren, indem wir für eine Sache demonstrieren. Wir können aber auch spenden oder ein Ehrenamt ausüben. Und – es geht noch niedrigschwelliger: Wir können in unserem privaten Umfeld den Mund aufmachen! Wir können Personen in unserem Umfeld, unserer Familie, im Freund:innenkreis oder Kollegium erklären, warum es nicht okay ist, die Körper anderer Menschen zu kommentieren, warum es nicht okay ist, das N-Wort zu benutzen oder warum man versucht, eine gendergerechte Sprache zu etablieren. Natürlich nur, wenn man für all das Zeit und Energie hat.
Es gilt die Devise: Choose your battle! Rauch Dich nicht in privaten Grabenkämpfen auf. Du kannst auch andere Menschen darin unterstützten, ihre eigenen Grenzen kennenzulernen und zu wahren.
> Wie genau Du diesen wertvollen Beitrag leisten kannst, lernst Du in der Feministischen Coaching Ausbildung! Meine Kollegin Sabine Groth und ich befähigen Dich, andere Frauen in ein erfülltes Leben zu begleiten. Vielleicht arbeitest Du ja schon beratend mit Frauen oder möchtest es tun? Möglicherweise sehnst Du Dich nach einem unterstützenden Miteinander unter Frauen und fragst Dich, wie Du ein solches Miteinander in Deinem Arbeitsalltag gestalten kannst. Wir liefern Dir konkrete Methoden, um Frauen auf ihrem Weg zu mehr Selbstermächtigung zu unterstützen.
Denn wir brauchen in unserer Gesellschaft ganz dringend mehr Multiplikatorinnen und Mitstreiterinnen auf dem Weg in ein gleichberechtigtes Miteinander! Deswegen haben wir die Ausbildung zur Feministischen Coachin ins Leben gerufen.
Sehen wir uns in 2024? Sabine und ich würden uns freuen und wünschen Dir alles Gute fürs Neue Jahr!
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Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata ist Mutter, Therapeutin, Medizinanthropologin und Co-Gründerin von Deutschlands erster Ausbildungsinstitution für Feministisches Coaching. Ihr Ziel ist es, Alltagsfeminismus als Prozess gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten und Frauen und Männern gleichermaßen dabei zu unterstützen, einen lebenspraktischen Feminismus in ihrem Alltag zu etablieren.
Mit dem rbbKultur-Podcast «Die Alltagsfeministinnen» erreicht ihre Arbeit ein breites Publikum. In ihrer Privatpraxis bietet sie ein stark gebuchtes Coachingprogramm zum Thema an. Johanna Fröhlich Zapata lebt mit ihrer erweiterten Familie in großer Fürsorge-Gemeinschaft in Berlin.
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