Ein familienfreundliches Unternehmen ist eine Organisation, die Maßnahmen und Richtlinien einführt, um die Bedürfnisse der Mitarbeitenden in Bezug auf Familie und Beruf in Einklang zu bringen. Klingt ganz schön trocken, oder?
Und gibt es das wirklich oder ist das eine Utopie? Wie sieht die gelebte Vereinbarkeit in Unternehmen wirklich aus?
Magdalena – Wiedereinstieg nach Elternzeit
Magdalena hat nach der Geburt ihrer beiden Kinder im Job ausgesetzt und danach Teilzeit gearbeitet. Danach wollte sie wieder richtig durchstarten, wie sie in unserer Podcastfolge „Leben oder Lebenslauf” bei „Die Alltagsfeministinnen” erzählt.
Magdalena will eine Arbeit, die ihren Qualifikationen entspricht und sie intellektuell fordert. Bei der Stellensuche stellt sie aber fest: Teilzeit UND Verantwortung? Fehlanzeige!
Nele – Karriere in der Forschung
Nele wiederum hat mit zwei kleinen Kindern ihr Chemiestudium durchgezogen und könnte in der Forschung Karriere machen. In der Podcastfolge „FOMO Feminismus – Muss ich Karriere machen?” erzählt sie, dass sie sich als Feministin verpflichtet fühlt, Role Model und Wegbereiterin für Frauen in den Naturwissenschaften zu sein. Aber sie merkt, dass sie das vermutlich mehr Kraft kostet, als sie hat. Sie wünscht sich Vereinbarkeit und weniger Stress.
Familie – Kinder – Erwerbstätigkeit
Wie kann beides gelingen? Eine Familie gründen, Kinder großziehen und trotzdem einer Erwerbstätigkeit nachgehen? Familienfreundlichkeit gewinnt zunehmend an Bedeutung. Das geht aus dem neuen „Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit 2023” hervor. „Für rund 86 Prozent der Unternehmen sind familienfreundliche Maßnahmen bedeutsam.
Das entspricht einem Anstieg von rund acht Prozentpunkten im Vergleich zur Erhebung 2015, der auch auf die mittlerweile deutlich spürbaren Fachkräfteengpässe in vielen Unternehmen zurückzuführen ist”, heißt es dort.
Wie schaffe ich es psychisch gesund bis zur Rente?
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es uns unsere Arbeitswelt nicht gerade leicht macht, es gesund bis ins Rentenalter zu schaffen. Und ich rede hier nicht mal von glücklich. Nur gesund. Zu unsicher, zu prekär, zu unvereinbar scheinen unsere Arbeitsplätze oft zu sein. Arbeitsintensität, fehlende soziale Unterstützung im Betrieb oder die Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit können enorme psychische Belastungen sein. Gerade für Familien!
Daraus resultierende Erkrankungen der Psyche kommen die Wirtschaft teuer zu stehen. Psychische Erkrankungen sind laut Bundesgesundheitsministerium immer häufiger der Grund für Fehlzeiten und den frühzeitigen Einstieg in das Rentenalter:
- Rund 15 % aller Fehltage gehen auf Erkrankungen der Psyche zurück.
- Die Krankheitsdauer ist mit durchschnittlich 36 Tagen dreimal so hoch wie bei anderen Erkrankungen.
- Die Krankheitskosten durch psychische und Verhaltensstörungen betrugen im Jahr 2015 in Deutschland 46,4 Milliarden Euro.
- Das macht rund 13,1 % der gesamten Krankheitskosten aus (Destatis).
Das kostet letztendlich nicht nur die Kassen, sondern auch die Unternehmen, die über fehlendes Personal klagen.
Im Fokus: beschäftigte Väter
Wenn Frauen (mehr) arbeiten können, profitieren davon Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt. 840 Tausend Arbeitskräfte mehr stünden in Deutschland zur Verfügung, wenn alle Frauen mit Kindern unter 6 Jahren so viele Stunden im Job arbeiten würden, wie sie Umfragen zufolge gerne möchten (Quelle: www.familienfreundliche-arbeitgeber.de). Deshalb bemühen sich Unternehmen in Deutschland schon seit längerer Zeit um mehr Familienfreundlichkeit.
UND: Sie haben auch Väter als Zielgruppe für sich entdeckt. Auch wenn Väter nach wie vor in der Regel in Vollzeit die Hauptverdiener vieler Haushalte sind (Juncke et al., 2018 und 2021) – das gesellschaftliche Rollenverständnis wandelt sich immer mehr. Und auch das ist in der Wirtschaft angekommen. Laut „Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit” hat sich die Zahl der Unternehmen, die männlichen Führungskräften anbieten, in Elternzeit zu gehen, seit 2015 mehr als verdoppelt, nämlich von rund 17 auf 34 Prozent.
Der Anteil der Unternehmen, die Vätern anbieten, in Teilzeit zu arbeiten, hat sich sogar vervierfacht. 2015 lag er noch bei rund fünf Prozent, 2023 liegt er nun bei gut 19 Prozent.
Eine Trendwende? Offenbar sprechen Personalabteilungen oder direkte Führungskräfte auch immer mehr Väter gezielt an, um Unterstützungsbedarf in der Arbeitsorganisation abzuklären. Doch ob Väter die Hilfs- und Unterstützungsangebote tatsächlich annehmen, liegt in der individuellen Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit in den privaten Haushalten.
Im Norden läuft das schon vielerorts besser. Immer wieder werden die skandinavischen Länder wegen ihrer hohen Frauenerwerbstätigkeit, relativ hohen Geburtenraten und der wachsenden Beteiligung der Väter an der Kinderbetreuung als glühende Beispiele herangezogen. Familienfreundlich heißt eben auch väterfreundlich!
Die Politik bessert derweil nach: Bereits seit 2022 gilt in der EU eine „Richtlinie zur besseren Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf” (PDF). Im kommenden Jahr soll sie nun endlich auch in Deutschland vollends umgesetzt werden. Das beinhaltet ein Recht auf zehn Tage bezahlten Vaterschaftsurlaub nach der Geburt eines Kindes.
Wann genau das Gesetz allerdings kommen soll, hält Familienministerin Lisa Paus noch offen. Aufgrund der Verzögerung hat die EU-Kommission bereits ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eröffnet.
Familienfreundliches Unternehmen: Eine Checkliste
Neben der Väterfreundlichkeit sind hier weitere Merkmale für konkrete familienfreundliche Maßnahmen in Unternehmen. Wie viele Haken kannst du für Dein Unternehmen setzen?
#Anerkennung
Familienfreundliche Unternehmen erkennen an, dass Mitarbeitende oft familiäre Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten haben und würdigen und berücksichtigen dies entsprechend. Zum Beispiel durch:
#Vereinbarkeit
Familienfreundliche Unternehmen schaffen eine Arbeitsumgebung, die es den Mitarbeitenden erleichtert, Familie und Beruf zu vereinbaren. Franzi zum Beispiel ist nach der Elternzeit zurück im Job und fühlt sich seitdem ständig gehetzt. Der Traum von Vereinbarkeit ist in der Realität Stress pur. Sie kommt zu mir ins Coaching mit der Frage: Wie viel kann und will ich als Mutter arbeiten? Hier nachzuhören: „Wiedereinstieg nach der Babypause – Vereinbarkeit im Realitäts-Check”.
#Flexible Arbeitszeiten
Familienfreundliche Unternehmen bieten flexible Arbeitszeiten an, die es den Mitarbeitenden ermöglichen, ihre Arbeit an ihre familiären Verpflichtungen anzupassen. Dies kann Teilzeitarbeit, Gleitzeit oder andere flexible Arbeitszeitmodelle umfassen. Aber Achtung, Teilzeitfalle!
#Homeoffice
Seit Corona plötzlich gar nicht mehr so ungewöhnlich und dennoch nicht in allen Jobs möglich: von zu Hause aus arbeiten. Familienfreundliche Unternehmen ermöglichen den Mitarbeitern mit einer Homeoffice-Regelung, ihre Arbeit in einer Umgebung zu erledigen, die ihren familiären Bedürfnissen entspricht.
#Freistellung
Familienfreundliche Unternehmen ermöglichen gerade in Zeiten von Pandemien und Kita- oder Schulschließungen wegen Personalmangel ihren Mitarbeitenden Arbeitsfreistellungen wegen Krankheit der Kinder, die über die gesetzliche Regelung hinausgehen.
Darüber hinaus sollten bei familiären Problemen Sonderurlaube oder Kurzabwesenheiten, Auszeiten und teilweise oder vollständige Freistellung wegen der häuslichen Pflege naher Angehöriger möglich sein.
Übrigens: Wer sich als Eltern oder in der Pflege von Familienangehörigen im Job benachteiligt fühlt, kann das Beratungsangebot der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nutzen. Das kranke Kind darf nicht zum Kündigungsgrund werden.
#Kinderbetreuung
Familienfreundliche Unternehmen bieten Unterstützung bei der Kinderbetreuung, zum Beispiel finanziell, durch einen Tagesmutterservice, durch temporäre oder betriebliche Kinderbetreuung (Betriebskinderkrippe, Betriebskindergarten, Belegplätze), Ferienbetreuung.
Familienfreundliche Unternehmen erlauben es ihren Mitarbeitenden auch, das Kind zur Arbeit mitzubringen und richten Eltern-Kind-Büros ein oder schaffen andere Aufenthaltsmöglichkeiten für Kinder im Betrieb.
#Unterstützung bei Angehörigenpflege
Familienfreundliche Unternehmen leisten Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Beruf und der Pflege von Angehörigen, zum Beispiel durch flexible Arbeitszeiten oder Beratung und Vermittlung von Seniorenbetreuungsplätzen. Dafür kooperieren sie mit Anbietern von Pflegedienstleistungen und/oder stellen betriebliche Pflegelots:innen. Pflegelots:innen sind im Betrieb erste Anlaufstelle, wenn Mitarbeitende einen Pflegefall in der Familie haben.
Im Gegensatz zu Führungskräften oder Personaler:innen sind Pflegelots:innen mit den Problemen von pflegenden Angehörigen vertraut und kennen alle gesetzlichen Regelungen und innerbetrieblichen Angebote. Auch ein informelles Netzwerk für Notfälle bzw. eine Dienstleistungstauschbörse sind Pluspunkte.
#Elternzeit und Elternurlaub
Familienfreundliche Unternehmen haben großzügige Elternzeit- und Elternurlaubsregelungen, die es Eltern ermöglichen, sich um ihre Kinder zu kümmern, ohne die berufliche Position zu gefährden. Außerdem wird Unterstützung beim Wiedereinstieg in den Job geboten.
#Möglichkeiten zur beruflichen Entwicklung
Familienfreundliche Unternehmen erkennen an, dass berufliche Entwicklung auch für Mitarbeitende mit Kindern wichtig ist und bieten Schulungen, Weiterbildungsprogramme etc. an, die mit den individuellen, familiären Bedürfnissen der Mitarbeitenden in Einklang stehen.
#Gesundheits- und Wellnessprogramme
Familienfreundliche Unternehmen fördern Gesundheits- und Wellnessprogramme, die die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden der Mitarbeitenden unterstützen und die Arbeitszufriedenheit steigern.
Das alles ist übrigens 1A-Burnout-Prophylaxe. Gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf zahlt sich am Ende auch für Unternehmen aus. Unternehmen, die sich als familienfreundlich positionieren, signalisieren ihre Wertschätzung für die individuellen Bedürfnisse der Mitarbeitenden und tragen dazu bei, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Familie zu fördern. Die Mitarbeiterbindung wird gestärkt und die Produktivität gefördert. Win win!
Wie finden Sie familienfreundliche Unternehmen?
78 Prozent der Eltern würden für mehr Vereinbarkeit den Arbeitgeber wechseln, heißt es auf der Internetseite www.familienfreundliche-arbeitgeber.de. Gegründet wurde diese Plattform von der Vereinbarkeitsbloggerin, zweifachen Mutter und Marketing-Expertin Jana Berger gemeinsam mit ihrem Mann. Ihr Ziel: jobsuchende Eltern und familienfreundliche Unternehmen auf Personalsuche zusammenzubringen. Was Eltern auf Stellensuche wirklich bräuchten, seien detaillierte Infos über Vereinbarkeitsangebote und mögliche Arbeitsmodelle.
Die Familienfreundlichkeit eines Betriebs kann man mittlerweile übrigens an diversen Gütesiegeln ablesen:
- Das „Audit Beruf und Familie” bekommen Unternehmen, Institutionen und Hochschulen. In einem mehrjährigen strukturierten Prozess, in dem Lösungen für eine familien- und lebensphasenbewusste Personalpolitik etabliert werden.
- Das Qualitätssiegel „Familienfreundlicher Arbeitgeber” der Bertelsmann-Stiftung bescheinigt die Prüfung, Bewertung und Auszeichnung familienbewusster Personalpolitik.
- „Familienfreundlicher Arbeitgeber (DIQP)” ist das Gütesiegel des Deutschen Instituts für Qualitätsstandards und -prüfung e.V. (DIQP), einer privaten Non-Profit-Organisation.
- Und falls hier nicht nur Eltern oder Familienangehörige mitlesen, sondern auch Unternehmen: Seit 2019 können Arbeitgeber:innen mit dem „Fortschrittsindex Vereinbarkeit” des Bundesfamilienministeriums messen, wie familienfreundlich ihr Betrieb wirklich ist. Anhand von zwölf Punkten wird gecheckt, ob Maßnahmen wirklich wirken und wie die Firma im Vergleich zu anderen abschneidet.
Aber Achtung: Ein Siegel lädt zum „Purple-Washing” des Unternehmens ein. Wir brauchen einen echten Werte-Wandel und eine Neustrukturierung unserer Zeiten.
Um von Vereinbarkeit als Siegel zu echter Faireinbarkeit zu gelangen braucht es neben einer neuen Arbeitskultur auch eine innovative und gerechte Fürsorge-Struktur, die nicht einzig von den Privathaushalten organisiert werden kann! (Hierzu: „Wer sich kümmert und wer nicht”, DLF Kultur Feature)
Die politische Care-Krise muss Hand in Hand gehen mit der Umstrukturierung von Unternehmen und Betrieben.
Zum Weiterlesen:
Familienfreundlichkeit soll zu einem Markenzeichen der deutschen Wirtschaft werden. Das hat sich das Bundesfamilienministerium zusammen mit den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft und dem DGB auf die Fahnen geschrieben und das Unternehmensprogramm und Netzwerk „Erfolgsfaktor Familie” ins Leben gerufen.
www.erfolgsfaktor-familie.de. Weitere Impulse bietet der Leitfaden „Väter und Vereinbarkeit” des BMFSFJ.
Deine Johanna
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Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata ist Mutter, Therapeutin, Medizinanthropologin und Co-Gründerin von Deutschlands erster Ausbildungsinstitution für Feministisches Coaching. Ihr Ziel ist es, Alltagsfeminismus als Prozess gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten und Frauen und Männern gleichermaßen dabei zu unterstützen, einen lebenspraktischen Feminismus in ihrem Alltag zu etablieren.
Mit dem rbbKultur-Podcast «Die Alltagsfeministinnen» erreicht ihre Arbeit ein breites Publikum. In ihrer Privatpraxis bietet sie ein stark gebuchtes Coachingprogramm zum Thema an. Johanna Fröhlich Zapata lebt mit ihrer erweiterten Familie in großer Fürsorge-Gemeinschaft in Berlin.
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