Googelt man die Kombination der Suchworte „Advent“ und „Stress“, bekommt man
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Da muss was dran sein, an diesem „Och nö, nicht schon wieder“-Gefühl, das viele überfällt, sobald es im September die ersten Lebkuchen zu kaufen gibt. Oder spätestens im November, wenn die „AG Wichteln“ im Büro die dreizehnte Erinnerungsmail rumschickt, sich bitte in die Büffet-Liste für die firmeninterne Weihnachtsfeier einzutragen.
Dabei wollen doch zuhause bereits die 24 x Adventskalendertürchen1 für die lieben Kleinen gefüllt werden. Wann war eigentlich der Moment, an dem Kinder nicht mehr nur mit Schokolade und Karies zufrieden waren? Ich muss da gerade im Winterschlaf gewesen sein… Oder sind sie vielleicht mit Schokolade zufrieden, nur wir nicht? Weil wir diesen Eltern-, ich korrigiere, Mütter-Ehrgeiz entwickelt haben, alle Jahre wieder etwas Extraordinäres zu schaffen, das man auf Insta oder Pinterest vorzeigen kann oder zumindest in der Kita-WhatsApp-Gruppe?
Woher der Wahn? Ich möchte hiermit dem Kapitalismus und dem Weihnachtsmann die Schuld geben und das tue ich auch. Schließlich ist das hier mein Text, meine Schmähdatio auf die Weihnachtszeit. Hier bin ich Mensch, hier darf ich alles. Dabei möchte ich Weihnachten lieb haben. Und das tue ich im tiefsten Innern auch. Wäre nur das Außen nicht beim Fest der Liebe. Die Verwandten, all die Erwartungen an Geschenke und Rituale, die To-Dos beim Weihnachtsmenü irgendwo zwischen Tradition, Veganismus und Gluten-Unverträglichkeit. Lieber Weihnachtsmann, ich kann nicht mehr…!
1 Je nachdem wieviel Nachwuchs dem heimischen Jahresend-Showdown entgegenfiebert, multipliziert sich die Summer der zu befüllenden Türchen, Beutel oder Pakete ins gefühlt Unendliche.
Gender-Weihnacht
Bei „Lieber Weihnachtsmann…“ fängt es ja schon an. In der westlichen Welt ist der Geschenke- und damit Heilsbringer traditionell ein alter, weißer Mann, der uns hier alles diktiert. Was also sollte ich als Frau mit dem Geschenke-Terror zu tun haben?
Die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte des Bundesfamilienministeriums, Kristin Rose-Möhring schreibt in einem Blogbeitrag:
„Für die männliche Weihnachtstradition spricht, dass der Weihnachtsmann unrasiert auf den letzten Drücker kommt, d.h. in der Nacht, wenn die Kinder schon schlafen, dass er nicht nach dem Weg fragt, um sich dann umständlich durch den Schornstein zu zwängen statt gemütlich durch die Tür zu kommen, und vor allem, dass er fürs Ego ein Schlittengeschoss mit 8 – 9 RS = Rentierstärken fährt. Für eine weibliche Weihnachtstradition spricht, dass eine Hexe Befana sich bescheiden mit einem Besen begnügt, dass die Geschenke schön verpackt sind und die Kinder die Geschenke bekommen, die sie sich gewünscht haben, d.h. jemand hat ihnen ZUGEHÖRT!“
Aha. Die Frau ist also wieder mal diejenige die zuhört und alles perfekt macht? Ich bin da ja für Arbeitsteilung. So wie die Feministin und Sprachpionierin Luise Pusch. Sie schlägt vor, beim Weihnachtspersonal eine gemischte Doppelspitze zu etablieren. Jawoll!
Ich schleppe keine Säcke mehr
Bis es so weit ist, schreibe ich an den Mann mit Bart: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir dieses Jahr, dass sich endlich jemand traut zu sagen, ‚Nee, Alter – wieviel Burn Out und Hirnwichserei, ich hasse es! Ich hasse das Fest der Liebe!‘“ Das kann man als erwachsene Frau doch wohl ruhig mal sagen?! Aber stattdessen beobachte ich alle Jahre wieder: Weihnachten – alle tun es, aber wer feiert es? Wer feiert es wirklich ab? Denn das hätte Jesus zu seinem Geburtstag doch nun wirklich verdient, oder? Und WIR verdienen weniger Stress.
Stattdessen hat laut Frederick Vahles „Lied vom Weihnachtsmann” nicht mal der Geschenke-Bringer selbst Bock auf diesen ganzen Trubel und fühlt sich zunehmend ausgenutzt:
„Der Weihnachtsmann sagt: Bitte sehr!
Ich schleppe keine Säcke mehr.
Ich bleibe dieses Jahr im Wald,
und pfeift der Wind auch noch so kalt.Ja, ja…nee, nee,
in Eis und Schnee.Im Sommer fragen sie mich dumm:
Was streunt der Penner im Wald herum?
Jedoch im Winter sind sie hart,
da brauchen sie einen Mann mit Bart.Ja, ja…nee, nee,
in Eis und Schnee.Und das Gewühle in der Stadt,
ich weiß nicht, wer’s erfunden hat.
Ich musste Reklame vorm Supermarkt steh’n
und durfte nicht nach Hause geh’n.Ja, ja…nee, nee,
in Eis und Schnee.
(…)“
Mental Load in der Weihnachtszeit reduzieren
Angesichts der Krisen, Kriege und Nöte derzeit ist mir persönlich danach, Weihnachten dieses Jahr ganz ausfallen zu lassen. Aber dann kommt wieder dieses Gefühl von FOMO auf. „Fear of missing out“. Die Angst, etwas zu verpassen, weil ja alle feiern und versuchen so zu tun, als sei alles in Ordnung und harmonisch, wenn der Gänsebraten verkohlt aus dem Ofen kommt oder der selbstgestrickte Rentierpullover Onkel Hans nicht passt, weil er in den letzten zwölf Monaten doch ein kleines Wohlstandsbäuchlein entwickelt hat.
Was also tun gegen dieses „Oh du Stressige“? Ich plädiere für JOMO. Für „the joy of missing out“. Ich plädiere für die Freude, etwas zu verpassen und dafür, dass das, was stattfindet, zu einer Art Alltagsluxus werden zu lassen, statt alles auf Weihnachten zu komprimieren.
Vielleicht schaffen wir es Momente echter Begegnungen mit Freund*innen, Verwandten und Bekannten, die etwas in uns zum Klingen bringen, wie die Glöckchen am Baum. In der Soziologie spricht man beim positiven Erleben von Beziehungen auch von Resonanz. Laut Prof. Dr. Hartmut Rosa, der diesen Begriff prägte, führt Resonanz auch zu dem Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht und erfüllend wirkt.
Weitere handfeste Tipps gegen Mental Load in der Weihnachtszeit habe ich auch zusammen mit meiner Kollegin Sonja Koppitz gesammelt. Vergangenes Jahr hatten wir in unserem Podcast von „Die Alltagsfeministinnen“ Patricia Cammarata aka dasnuf zu Gast. Patricia erzählt in dieser Folge („Oh du Stressige – so reduzierst du Mental Load in der Weihnachtszeit”), wie sie in ihrer Familie Weihnachten wieder zu einem entspannten Fest gemacht hat. Und sie gibt Tipps, wie ihr selbst durch die Feiertage kommt, ohne am Ende völlig erledigt unterm Weihnachtsbaum zu liegen.
Das bringt mich gleich noch auf die Idee zweier Geschenke-Tipps
- Patricia Cammaratas Buch „Raus aus der Mental Load Falle” ist 2020 im Beltz Verlag erschienen und kostet 17,95 Euro.
- Der Mental-Load-Test in der Weihnachtsedition ist eine Sonderedition des beliebten Mental-Load-Tests der „Initiative Equal Care“. Die verschenkbare Klappkarte ist eine weihnachtliche To-Do-Liste für die ganze Familie und lädt zum Gespräch ein.
Merry Equal Careistmas! Deine Johanna.
P.S.: Ich möchte die Fenster öffnen und rausschreien: „Christmas, come as you are!“. Alles ist erlaubt! Im tiefsten Innern habe ich Weihnachten nämlich lieb. Am meisten liebe ich, dass es irgendwann wieder vorbei ist. Wir sprechen uns dann Ostern wieder…
-
Johanna Fröhlich Zapata
Johanna Fröhlich Zapata ist Mutter, Therapeutin, Medizinanthropologin und Co-Gründerin von Deutschlands erster Ausbildungsinstitution für Feministisches Coaching. Ihr Ziel ist es, Alltagsfeminismus als Prozess gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten und Frauen und Männern gleichermaßen dabei zu unterstützen, einen lebenspraktischen Feminismus in ihrem Alltag zu etablieren.
Mit dem rbbKultur-Podcast «Die Alltagsfeministinnen» erreicht ihre Arbeit ein breites Publikum. In ihrer Privatpraxis bietet sie ein stark gebuchtes Coachingprogramm zum Thema an. Johanna Fröhlich Zapata lebt mit ihrer erweiterten Familie in großer Fürsorge-Gemeinschaft in Berlin.
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