Eine Sache vorweg: Ich bin grundsätzlich dafür, sich an Regeln zu halten. Denn ich glaube, Zusammenleben funktioniert besser, wenn alle ungefähr wissen, was passiert und was erwartet wird. Ich finde also Verkehrs-, Rechtschreib- und Spielregeln durchaus nützlich. Aber wer macht eigentlich die Regeln in der Gesellschaft? Wer legt fest, wie wir uns verhalten sollen? Wer legt fest, wie wer sich verhalten sollte?
Wer macht die Gesprächsregeln?
Auf dem Grundschulzeugnis meiner älteren Tochter gibt es 86 Spalten mit Fähigkeiten, die bewertet werden. Eine davon heißt: „Beachtung von Gesprächsregeln”. Die Bewertung: „Kompetenz teilweise ausgeprägt”. Das ist nach „wenig ausgeprägt” die zweitschlechteste Bewertung.
Weiter kann man dem Zeugnis jedoch entnehmen, dass die Fähigkeit meiner Tochter „Strategien des verstehenden Zuhörens” zu nutzen „sehr ausgeprägt” ist. Sie „verhält sich kooperativ“ Auch wird sie als „zielgerichtet, sorgfältig und pflichtbewusst“ bezeichnet. Und, Achtung, gleich als erstes, als „selbstbewusst”.
Wunderbar denkt die Alltagsfeministin. Aber wie ist das nun mit den Gesprächsregeln? Ich ahne, dass sich hinter dem Verweis auf das Selbstbewusstsein eventuell ein tiefersitzendes Problem verbirgt. Genauer gesagt: eine bestimmte Erwartungshaltung, die ich nicht teile.
Das Mädchen muss sich zurücknehmen
Schon beim Elternsprechtag hatte uns die Klassenlehrerin gesagt, unsere Tochter müsse lernen, sich zurückzunehmen. Da war ich zuerst ziemlich schockiert. Natürlich möchte ich nicht, dass mein Kind andere Kinder unfreundlich oder unhöflich behandelt. Diese Sorge allerdings räumte die Lehrerin damals schnell aus. Unsere Tochter sei sehr hilfsbereit und aufmerksam für die Belange anderer. Sie müsse eigentlich nur lernen, sich zu melden, bevor sie im Unterricht redet. Das konnte ich verstehen und wir haben unsere Tochter auch immer wieder daran erinnert, nicht einfach mit allem sofort herauszuplatzen, auch wenn sie ganz dringend das Unterrichtsgeschehen bereichern möchte.
Wenn der Junge laut ist, bekommen die anderen Kopfhörer mit Noise Cancelling
Aber dann war da noch die Sache mit den Kopfhörern: Zum Elternabend brachte die Klassenlehrerin große stylische Kopfhörer mit. Eine Stunde lang lagen sie neben ihr auf dem Pult und ich glaubte, damit habe sie auf dem Weg laute coole Musik gehört. Aber die Kopfhörer waren für die Klasse bestimmt. In den Worten der Lehrerin: „Wir haben festgestellt, dass manche Kinder sich im Unterricht besser konzentrieren können, wenn sie Kopfhörer aufsetzen.” Das kam mir nicht übermäßig originell oder relevant vor.
Aber meine Tochter half meinem Verständnis am nächsten Tag ein wenig nach. Offenbar gab es in der Klasse noch andere Kinder, die sich nicht melden und trotzdem reden. Oder schreien. – Schreien? – „Ja”, sagte mein Kind. „Manchmal schreit M. so laut, dass manche ihre Aufgaben nicht mehr machen können, und dann bekommen sie Kopfhörer.”
Jetzt bin ich wirklich schockiert. Weil es den Lehrkräften nicht gelingt, in der Klasse für ausreichende Ruhe zu sorgen, bekommen die ruhigen Kinder Kopfhörer mit Lärmunterdrückungsfunktion?!
Wer redet kann möglicherweise sogar etwas bewirken
Wie verhält sich die Idee mit den Kopfhörern zu der Aussage, meine Tochter müsse lernen, sich zu melden? Ist das der Versuch, zumindest einen Teil der Klasse ruhig zu halten? Oder spricht da sogar die Hoffnung, dass vorbildliches Verhalten sich am Ende gar auf M. übertragen wird? Mehr noch frage ich mich, weshalb das Mädchen (meine Tochter) ruhig gehalten werden muss, während der Junge (M.) schreien darf.
Ist es wirklich eine gute Idee, auf diese Weise Inklusion zu versuchen? Denn offensichtlich hat M. einen erhöhten Betreuungsbedarf. Manchmal dauert es, wie ich inzwischen weiß, zehn Minuten, bis der Unterricht überhaupt beginnen kann, weil M. keine Ruhe gibt.
Ganz sicher gibt es hier viel zu bedenken und viel zu würdigen. Ich habe großen Respekt vor allen Grundschullehrer:innen, die sich täglich um das Wohlbefinden und die Bildung unserer Kinder bemühen. Aber es schmerzt mich, wenn in der Not plötzlich so ganz primitive Stereotype bemüht werden. Wenn die Mädchen brav sein müssen, damit sich die Lehrkräfte um die schwierigen Jungen kümmern können.
Von meiner Tochter erfahre ich schließlich auch, was das Lehrpersonal nur ungern zugibt: es gibt in der Klasse nicht nur viel Lärm, sondern hin und wieder auch Handgreiflichkeiten. Aber mein Kind weiß sich zu helfen und hat herausgefunden: „Eigentlich ist M. nett. Und wenn man mit ihm redet, dann haut er auch gar nicht.” Da bin ich doch ganz froh, dass meine Tochter manchmal einfach redet, wenn sie es für richtig hält.
Paula Schreiber
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Paula Schreiber
Paula Schreiber ist promovierte Geisteswissenschaftlerin und hat eine befristete Stelle in einem Drittmittelprojekt an einer großen Universität in Deutschland. Ihr Mann ist ebenfalls Wissenschaftler. Zusammen haben sie zwei Kinder, die sie gleichberechtigt erziehen. Wenn dann noch Kräfte übrigbleiben, kümmern sie sich zu gleichen Teilen um den gemeinsamen Haushalt und den Rest des Lebens.
Feedback und Austausch in Bezug auf Paulas Kolumne ist persönlich an die Autorin möglich an: paulaschreiberin@gmail.com