Endlich forschungsfrei
Ich schreibe eine E-Mail an eine Kollegin, die Professorin an einer großen Universität ist. Gerade hat ihr Forschungssemester begonnen. Seit Langem hat sie sich auf dieses Semester gefreut, denn es ist ihr erstes Sabbatical: endlich viel Zeit für ihre eigene Forschung! Ich wage es trotzdem, sie anzuschreiben, weil ich einen ihrer Aufsätze brauche und meine Uni die betreffende Zeitschrift nicht abonniert hat.
Ich denke über freundliche Formulierungen nach, frage sie schließlich am Anfang meiner E-Mail, ob sie schon einen guten Arbeitsrhythmus gefunden hat, und bitte sie dann um das gesuchte PDF. Die Antwort kommt bald: nicht nur ein PDF, sondern als Zugabe gleich noch mehrere Veröffentlichungen zum Thema und weitere Hinweise sowie gute Wünsche für mein Projekt. Ich freue mich über so viel Wohlwollen. Wenn es in der Wissenschaft auch diese Art von Kommunikation gibt, dann halte ich es vielleicht doch noch eine Weile hier aus.
Schulfrei statt forschungsfrei
Aber wie geht es der Kollegin selbst? Zum Forschen ist sie noch nicht so recht gekommen, weil pünktlich zum Semesterbeginn die Schule ihres Sohnes geschlossen wurde. Bauliche Mängel, Einsturzgefahr. Die Überprüfung läuft. Möglicherweise wird die Schule zunächst geschlossen bleiben. Ich denke kurz: War ja klar! Nur wer keine Kinder hat, hat überhaupt jemals frei. Irgendwas ist immer.
Kinder und/oder Karriere
Nun hat die Professorin auch einen Ehemann, den Vater des Sohnes, dessen Schule geschlossen wurde. Auch hat dieser Ehemann seine eigene wissenschaftliche Karriere aufgegeben, als sie den Ruf an die Uni erhielt. So wie ich es von ganz vielen Paaren kenne, allerdings mit umgekehrter Rollenverteilung. In der Mehrheit der Fälle geht es um heterosexuelle Beziehungen, in denen der Mann Professor wird und die Familie ihm nachfolgt, manchmal um die ganze Welt, meist im Abstand von wenigen Jahren an verschiedene Orte.
Mir ist auch klar, warum sich viele Paare, noch häufiger wohl Paare mit Kindern, für dieses Modell entscheiden. Ich weiß selbst, wie schwer es ist, wenn beide Partner:innen in der Wissenschaft tätig sind und in ihren jeweiligen Spezialgebieten beide einen Job in derselben Stadt suchen. Bisher hatten mein Mann und ich Glück. Wir konnten zweimal zusammen umziehen und beide in unserem Fach arbeiten. Bisher haben wir auch Kindergärten, Schulen, Babysitter:innen, Kinderärzt:innen, Sportvereine, Musikgruppen, Parks, Spielplätze, Kinderbibliotheken – und Freund:innen an jedem neuen Ort gefunden.
Aber ich habe mir bei jedem Umzug, bei jeder Eingewöhnung in eine neue Betreuungseinrichtung, mit jedem/r wegfallenden Babysitter:in gewünscht, mich einfach nur auf den Umzug, die Eingewöhnung, die Babysitter:innensuche konzentrieren zu dürfen. Und manchmal habe ich mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn mein Mann sich einfach dafür entschieden hätte, Hausmann zu sein. (Oder hätte ich das dann entschieden?) Ich hätte es nicht gewollt.
Wir haben es nicht so gewollt. Wir wollten beide beides: Uni und Kinder. Aber es ist hart. Und die Vorstellung, nicht immer für alles zuständig zu sein, nicht immer alles gleichzeitig bedenken zu müssen, diese Vorstellung hat ihren Reiz.
Mutti für alles?
Jetzt lese ich, was meine Kollegin, die Professorin schreibt: Es kann sein, dass sie ihr Forschungssemester mit Home Schooling verbringen wird. Anstatt sich auf ihre bedeutsame Position, ihr wichtiges Projekt, ihre Rolle als Familienernährerin zurückzuziehen, spricht sie von ihrem Sohn und davon, dass sich ja jemand um seine Schulausbildung kümmern muss.
Das beeindruckt mich sehr. Es kommt mir sehr untypisch vor, einerseits. Denn ich treffe in der akademischen Welt selten auf Menschen, die ehrlich davon sprechen, wenn es gerade mal wieder eng wird mit der Familie. Vor allem erinnere ich mich an keinen Professor, der wegen der Schule/Krankheit/Hobbies seines Kindes seine Forschung vernachlässigt hätte. Die wenigen Professorinnen, die ich kenne, haben zumeist keine Kinder. Und hier ist endlich eine Frau, die Professorin geworden ist, Kinder hat und sich sogar um diese kümmert! Typisch Frau, untypisch Prof?
Ich bin fast sicher, dass ein Mann an ihrer Stelle die Sorge um das Kind der Partnerin überlassen hätte. Aber der Gedanke gefällt mir nicht. Und so möchte ich mir gar nicht wünschen, meine Kollegin würde sich ebenso verhalten. Doch was ist die Alternative? Wo ist das Rollenmodell für eine gerechte und gesunde Verbindung von Elternschaft und Wissenschaft?
Ganzheitlichkeit bis zur Schmerzgrenze
Ich kann mich gut erinnern, wie mir während der Corona-Lockdowns jemand zuraunte, es sei doch sicher auch ganz schön, endlich einmal in Ruhe Zeit mit den Kindern zu verbringen. Schon damals habe ich geantwortet, dass das Problem nicht meine Kinder seien, sondern die fehlende Anerkennung für die Kinderbetreuung im Vergleich zur beruflichen Tätigkeit.
Im Wettbewerb um Drittmittel und Jobs war ich gegenüber kinderlosen Kolleg:innen von Monat zu Monat weiter abgehängt. Die meisten Menschen mit Fürsorgeverantwortung kennen dieses Dilemma. Hier und da wird inzwischen versucht, in Bewerbungsverfahren darauf Rücksicht zu nehmen und Fürsorgezeiten in der akademischen Biographie zu würdigen. Man kann einer Bewerbung ein COVID-Statement beifügen und darin beschreiben, wie die Pandemie sich (negativ) auf die eigene Forschung und Publikationen ausgewirkt hat. Aber der Fall meiner Kollegin zeigt, dass das Problem viel, viel tiefer liegt.[1]
Nicht zu jedem Leben gehören eigene Kinder. Zu Kindern aber gehören definitiv auch geschlossene Schulen und Kindergärten. Streik, Studientag der Lehrkräfte, Erste-Hilfe-Kurs der Erzieher:innen, Brückentag, wieder Streik, Krankheit des Personals und grundsätzlicher Personalmangel. Das bedeutet viele freie Tage, die von Eltern überstanden werden wollen, noch bevor das Kind oder man selbst einen einzigen Tag krank gewesen ist.
Und diese Tage sind weder in unseren Arbeitsverträgen noch im Denken der meisten Vorgesetzten eingeplant. Man sagt uns: „Du wolltest ja Kinder.“ Und damit soll jede Klage von Eltern gleich entkräftet werden. Ich halte dagegen: „Ich wollte und will auch eine funktionierende Kinderbetreuung.“ Was bleibt uns also übrig, wenn wir Kinder und Karriere wollen? Müssen wir an beiden Aufgaben zerbrechen? Oder uns am Ende doch für eine Rolle entscheiden: Mutter oder Forscherin?
Neue Vorbilder
Eigentlich weiß ich, dass es unmöglich ist, den Herausforderungen des Unibetriebs und den Unwägbarkeiten der Kinderbetreuung gleichzeitig gerecht zu werden. Um die perfekte Professorin mit Kindern zu sein, müsste unser Tag 48 Stunden haben und wir dürften niemals schlafen. Wir können aber nur tun, was unsere Kräfte und unser Gewissen uns ermöglichen. Und das ist oft schon so viel.
Reden wir darüber. Das Beispiel meiner Kollegin, die bereit war, ihr Forschungssemester mit Home Schooling zu verbringen, hat mich nicht nur überrascht. Es hat mich auch beruhigt, dass ich nicht die einzige bin, die ihre Forschung nicht über alles stellt. Habe ich nicht oft schon gedacht, dass es wichtiger wäre, endlich mit meiner Tochter diesen einen besonders leckeren Kuchen zu backen oder auf diesen tollen, aber leider weit entfernt liegenden Spielplatz zu gehen als noch drei ganz spezielle Literaturhinweise in irgendwelchen Fußnoten unterzubringen?
Und habe ich mir dann nicht gewünscht, jemand würde mir erlauben, dem Kuchen oder dem Spielplatz tatsächlich den Vorzug zu geben? Solange keine Pandemie uns heimsucht oder die Schule einstürzt sind die Fußnoten der nächsten Publikation meist wichtiger. Aber vielleicht gelingt es mir ja in Zukunft manchmal, mir mein eigenes gutes Vorbild zu sein und selbst zu entscheiden, was mir wichtig ist. „Typisch Paula,“ könnten dann diejenigen sagen, die mir an einem Freitagabend eine E-Mail schreiben und erst am Montagmittag eine Antwort bekommen, dafür aber eine sehr herzliche.
[1] Vgl. Fulweiler/Davies et al., Rebuild the Academy: Supporting academic mothers during COVID-19 and beyond: https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001100.
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Paula Schreiber
Paula Schreiber ist promovierte Geisteswissenschaftlerin und hat eine befristete Stelle in einem Drittmittelprojekt an einer großen Universität in Deutschland. Ihr Mann ist ebenfalls Wissenschaftler. Zusammen haben sie zwei Kinder, die sie gleichberechtigt erziehen. Wenn dann noch Kräfte übrigbleiben, kümmern sie sich zu gleichen Teilen um den gemeinsamen Haushalt und den Rest des Lebens.
Feedback und Austausch in Bezug auf Paulas Kolumne ist persönlich an die Autorin möglich an: paulaschreiberin@gmail.com