#mini*streik … Weil es die kleinen Streik-Momente genauso braucht
Text & Bild: Anita Ruggiero & Lynn Riegger
Das Patriarchat abschaffen? Ja gerne, sofort! Geht das einfach? Definitiv nicht! Um dieses gewagte Vorhaben umzusetzen, braucht es nicht nur die großen (politischen) Entscheide und Maßnahmen, sondern auch das alltägliche feministische Engagement.
Utopien einer anderen, gleichberechtigteren Welt haben Feminist:innen immer schon entwickelt und genutzt, um daran ihr Engagement im Hier und Jetzt auszurichten. Unsere Utopie ist die einer Gesellschaft, in der Gemeinschaftlichkeit und Fürsorge im Zentrum stehen. Eine Gesellschaft, in der sich alle entfalten und frei bewegen können, in der alle in Sicherheit und Zufriedenheit leben können. Eine Gesellschaft, in der viele Geschlechter sowie Beziehungs- und Familienformen lebbar sind.
Das Schöne an Utopien ist, dass sie einen imaginären Möglichkeitsraum öffnen, der zum kreativen Nachdenken einlädt. In unserer Utopie gibt es kein Patriarchat mehr.
Wie kann also eine alltägliche feministische Praxis aussehen? Wie kann jede*r von uns im Kleinen immer wieder am patriarchalen System rütteln?
Mini-Streiks im Alltag
Vor einiger Zeit erzählten wir in einer spontanen Runde mit Freund:innen einander von unseren feministischen Alltagsmomenten der letzten Woche. Zwei Dinge haben uns dabei fasziniert:
- Erstens kamen unglaublich viele lustige, mutige, starke und berührende Erlebnisse zusammen. Die subversive Kraft lag in der Summe unserer Handlungen – wenn jede von uns immer wieder ein wenig am Fundament des Patriarchats rüttelt, wie soll es dann nicht irgendwann ins Wanken kommen?
- Und zweitens lag im Erzählen dieser persönlichen feministischen Alltagsmomente eine Kraft, die uns andere nährte, unterstützte und motivierte. Ein Gefühl von: Wir sind viele und wir arbeiten gemeinsam daran, das Patriarchat abzuschaffen. Immer wieder, jeden Tag, jede*r auf die für sie mögliche Art und Weise.
Davon ausgehend entstand die Idee, weitere feministische Handlungen im Alltag verschiedener Frauen sichtbar zu machen. Denn wir sind überzeugt, dass es sie gibt. Wir sind überzeugt, dass viele Frauen ihre kleinen Lücken im Patriarchat gefunden haben und diese nutzen, oftmals ohne sich als feministisch wahrzunehmen. Wir sind sicher, dass Frauen ihre persönlichen Widerstände gegen ein System entwickelt haben, welches zwar auf sie (ihre Fürsorge, ihre Körper, ihre Arbeit) angewiesen ist, sie dafür aber nicht anerkennt.
Aufkleber für mehr Aufmerksamkeit
Im Rahmen des feministischen Streiktags, der in der Schweiz jährlich am 14. Juni stattfindet, entstand daraus die Aktion #mini*streik. Eine Aktion, in der wir mit Aufklebern im öffentlichen Raum die feministische Alltagspraxis verschiedener Frauen sichtbar machten.
Es ging darum, einerseits die Aufmerksamkeit auf den feministischen Streik in der Schweiz zu lenken – andererseits aber darüber hinaus zu kleinen feministischen Alltagsmomenten – eben Mini-Streiks – zu motivieren.
Der Feministische Kreis
Über den daraufhin neu gegründeten Feministischen Kreis auf Instagram sowie über private Kanäle starteten wir einen Aufruf an Frauen in unserem Umfeld und schnell kamen erste Rückmeldungen:
- Unrasiert ins Freibad gehen;
- mein Kind in der Öffentlichkeit stillen;
- mein Kopftuch tragen, auch wenn andere sagen, ich soll es ausziehen;
- mit Wärmflasche am Bürotisch sitzen, wenn ich meine Blutung habe;
- nicht Aufräumen bevor Besuch kommt;
- nicht zu jedem Geburtstag einen Kuchen mitbringen sondern einfach eine Packung Chips.
Die Rückmeldungen kamen von unseren Müttern, Freund:innen, Nichten, Großtanten aber auch von vielen weiteren Frauen, die wir nicht persönlich kennen.
Der Feministische Kreis darf seither als Austauschgefäß, Plattform und Netzwerk wachsen. Nach dem Motto eines „Feminismus im Dialog“, soll dieser den offenen Austausch über Feminismus fördern und Feminist:innen in ihrem Alltag (be)stärken. Initiiert und kuratiert von Lynn, ist er ein gemeinschaftliches Projekt von Feminist:innen und allen, die sich angesprochen fühlen – um potenziell unendlich viele feministische Feuer zu entfachen.
Im Offline-Kreis können in niederschwelligem Rahmen alltägliche, ganz individuelle Herausforderungen, Handlungen und Haltungen geteilt und erfahren werden. Denn so unterschiedlich wie unsere Lebensrealitäten, so verschieden sind auch unser Verständnis und unsere Möglichkeiten, alltagsfeministisch zu leben.
Über den Instagram-Account teilten wir einige Statements. Zehn davon ließen wir auf Aufkleber drucken, die wir vor und am feministischen Streik verteilten. Als sich der überwiegend weibliche und violette Demonstrationszug am Streiktag durch die Basler Innenstadt bewegte, hatten etliche Frauen unsere Aufkleber auf ihren Taschen oder T-Shirts angebracht und trugen sie so weiter, vernetzten und solidarisierten sich mit den unbekannten Frauen und ihren Alltagshandlungen.
Der feministische Streik in der Schweiz
Der erste feministische Streik (damals noch Frauen-Streik genannt) in der Schweiz fand am 14. Juni 1991 statt, genau zehn Jahre nach der Abstimmung, in der die Stimmberechtigten der Aufnahme des Gleichstellungsartikels in die Bundesverfassung zugestimmt hatten. Seit 2019 fanden wieder jährlich große Demonstrationen und Aktionen in der ganzen Schweiz statt. Und es geht heute, genau wie 1991, immer noch darum, die übersehene, abgewertete und unbezahlte Arbeit der Frauen in unserer Gesellschaft sichtbar zu machen.
Die Frauen auf der Straße fordern mehr Zeit, mehr Lohn, mehr Respekt, sie fordern eine grundsätzliche Umverteilung von Zeit, Macht und Geld. In der Schweiz verdienen Frauen im Durchschnitt 18 % weniger als Männer für gleiche oder gleichwertige Arbeit, Altersarmut ist Realität, die sogenannte Child-Penalty auch (nach der Geburt des ersten Kindes sinken die Löhne der Frauen, während die der Männer („Ernährer“) ansteigen).
Traditionelle Geschlechtervorstellungen halten sich hartnäckig, noch immer erledigen die Frauen einen Großteil der Care-Arbeit und sind mehrheitlich Teilzeit erwerbstätig, weil Kita-Plätze fehlen und teuer sind aber auch, weil sie gesellschaftlich dafür als zuständig gelten. Es gibt in der Schweiz keine Elternzeit, wir haben seit 2020 lediglich einen zweiwöchigen (!!) Vaterschaftsurlaub, zusätzlich zu 14 Wochen Mutterschaftsversicherung für die Frauen.
2023 lehnte der Bundesrat die Einführung eines dritten amtlichen Geschlechts ab, mit der Argumentation, die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür seien nicht gegeben.
Der feministische Streik wirkt. Dies zeigt sich insbesondere in der nationalen Politik der Schweiz: Bei den Wahlen nach dem großen feministischen Streik von 2019 ist der Anteil queerer Personen und Frauen im nationalen Parlament stark gestiegen. Der Streik mobilisiert und politisiert viele Frauen und die Forderungen der Straße werden in politischen Debatten weiterverhandelt.
Streiks wirken, weil sie Druck machen und die Dringlichkeit der Themen aufzeigen. Darüber hinaus versichern wir uns durch den Streik gegenseitig, dass wir weiterhin an die feministische Utopie glauben und uns jeden Tag mit unseren Mini-Streiks beharrlich gegen das patriarchale System auflehnen. Und vor allem wissen wir, dass wir sowohl in der Utopie wie auch im Alltag gemeinsam unterwegs sind.
Fotos vom Feministischen Streik Raphaela Graph:
Links zum Weiterlesen:
- Feministisches Streikkollektiv Basel: https://frauenstreik-bs.ch/
- Schweizerischer Gewerkschaftsbund: https://www.14juni.ch
- Zur Geschichte des feministischen Streiktags in der Schweiz: https://www.srf.ch/news/gesellschaft/jahrestag-14-juni-von-den-anfaengen-des-frauenstreiks
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Anita Ruggiero & Lynn Riegger
Anita Ruggiero & Lynn Riegger sind feministische Komplizinnen mit viel (Selbst-)Erfahrung, Wissen und Know-How in den Bereichen Gleichstellung, Projektarbeit, Coaching, Yoga, Persönlichkeitsentwicklung, ganzheitliche Gesundheit, Fotografie u.v.m. Nebst einer langjährigen Freundschaft verbindet sie ihre Lust und Freude, das gemeinsame Interesse sowie Wissen zu verbinden und stärkende Räume und Angebote für Feminist*innen zu gestalten. Sie bieten diesen Sommer erstmals eine Feministische Auszeit an – denn im Patriarchat zu leben ist anstrengend, es zu bekämpfen braucht Kraft. Umso wichtiger, dass wir uns Auszeiten nehmen, gemeinsam innehalten und uns immer wieder neu ausrichten.
Anita Ruggiero hat Geschlechtergeschichte und Deutsche Philologie studiert und ihre Masterarbeit zum Frauenstimmrecht in der Schweiz geschrieben. Sie arbeitete die letzten Jahre als Projektleiterin im Gleichstellungsbereich und hat daneben verschiedene Projekte initiiert. So entstand beispielsweise das Sprachcafé Basel, ein interkultureller Austauschraum für Deutsch Lernende, oder ein feministischer Lesekreis. Ihr Fokus ist dabei immer intersektional, denn das Patriarchat ist eng mit kapitalistischen und rassistischen Strukturen verbunden. Aktuell absolviert sie eine Ausbildung zur Yogalehrerin und sucht nach feministischen Wegen, Yoga Trauma-sensibel und empowernd zu gestalten.
Lynn Riegger verfügt neben einem Studium in Soziologie und Medienwissenschaften über viel Arbeitserfahrung im sozialen- und kulturellen Bereich, insbesondere in Offenen Jugendarbeit. Der „roter Faden“ in all ihren Tätigkeiten, Ausbildungen und Interessen macht sie nun mit ihrer in den Kinderschuhen stehenden Kompliz:innenschaft sichtbar. Mit ganzheitlicher & gendersensibler Projektarbeit, Coaching & mehr verbindet sie Feminismus, Frauengesundheit und Fotografie und schafft Angebote bzw. ist Komplizin für Einzelpersonen, Gruppen und Projekte. Eines ihrer Kernanliegen ist es, Mädchen und Frauen (respektive Personen mit Gebärmutter) dafür zu sensibilisieren und zu ermächtigen, ihre eigene (Zyklus-)Gesundheit selbstbestimmt, ganzheitlich und nachhaltig unterstützen zu können.